Politische Kunst nach Chemnitz: Sie singen wieder
Die Kunst kann mehr Massen mobilisieren als jedes andere gesellschaftliche Feld. Was sagt das über den Zustand der Politik in diesem Land?
Dass die Kunst wieder politischer werden müsse, ist eine These, die man in diesen bewegten Chemnitzer Tagen öfter hört. Erstaunlich dabei: Die ja im Umkehrschluss nicht ohne Logik aufzustellende Forderung, dass Politik und Medien wieder künstlerischer werden sollten, dürfte hingegen kaum auf ähnliche Begeisterung stoßen. Jedes gesellschaftliche Feld hat anscheinend bestimmte Aufgaben und Fähigkeiten, die nicht ohne Verluste oder Beschädigung seines spezifischen Charakters munter getauscht werden können.
Mir kommt bei solchen Debatten immer die Heiner-Müller-Anekdote über die russische Ballett-Ikone Anna Pawlowna in den Sinn: „Also die Pawlowa wurde gefragt, was sie mit einem bestimmten Tanz sagen wollte, und da sagte sie, wenn sie das anders hätte sagen können als durch diesen Tanz, dann hätte sie sich nicht dieser Strapaze unterzogen.“
Wenn die Kunst die Massen für den guten oder den schlechten Zweck mobilisiert, dann habe ich aber gar nichts dagegen, im Gegenteil. Die Kunst soll tun, was sie kann, sie soll wirken, wie sie wirkt. Mindestens 65.000 Menschen, die in Chemnitz, ein Konzert besuchend, gegen Rassismus protestieren, sind besser als 65.000 Menschen, die das nicht tun. Die Frage ist nur: Was sagt das über den Zustand der Politik in diesem Land aus, über ihre Mobilisierungsfähigkeit?
Für die Selbstverständlichkeit, dass Menschenjagden gerade in einem in diesem Metier erfahrenen Land wie Deutschland keinen Platz haben dürfen, hat die sächsische Politik in den letzten 28 Jahren genau nichts getan. Wie man es sonst nur von Politikern in den mafiaverseuchten Gegenden Süditaliens kennt wurde geleugnet und verharmlost, die heute allenthalben zum todesmutigen Engagement gegen Totschlägerbrigaden aufgeforderte Zivilgesellschaft wurde und wird denunziert, drangsaliert und kriminalisiert. Und wo bleiben eigentlich die reuigen oder wenigstens nachdenklichen Statementes derjenigen Medienleute, die mit dem Einzug der AfD in den Bundestag vor allem die Hoffnung verbanden, mit ihr ziehe etwas mehr dufte Spannung ein in das langweilige deutsche Parlament?
Nazis basteln weiter an Strukturen
Aber nein, nun wird fröhlich mitgesungen, von jungen Menschen, die für das angerichtete Schlamassel nun wirklich am wenigsten verantwortlich zu machen sind. Der Bundespräsident sonnt sich in ihrem Glanz, die Nazis basteln von der Staatsmacht ungestört weiter an ihren Strukturen, die Bücher, in denen angewiesen wird, wie man mit Rechten zu reden habe, wandern stillschweigend in den Ramsch und von einem Zustimmungsverlust des parlamentarischen Arms der besorgten Bürger ist weit und breit nichts in den Umfragen zu lesen.
Kein Brecht, kein Thomas Mann, keine Irmgard Keun, kein Schönberg und kein Kurt Weill, kein George Grosz und keine Anita Rée haben die Naziherrschaft verhindern können. Sie haben Kunstwerke geliefert, die aus ihrer Zeit geschaffen wurden und in ihre Zeit wirken sollten; die uns heute erfreuen, erschüttern und ermahnen, die uns reicher und sensibler machen können – wenn wir uns ihrer Wucht denn auszusetzen bereit sind.
Das kann Kunst. Aber Kunst kann nicht die sächsische Polizei demokratisieren; Kunst kann nicht das großartige „Wir schaffen das“ mit Leben, also insbesondere mit sehr viel Geld füllen. Geld, das dort zu holen wäre, wo genug da ist – was auf härtesten Widerstand derjenigen, die etwas abgeben müssen, stoßen würde, wie wir alle noch von der völlig aus dem Ruder gelaufenen Polemik gegen den Mindestlohn im Gedächtnis haben. Dass der Willi erschlagen worden ist, wie Konstantin Wecker nun wieder auf allen Kanälen singen soll, war gestern, genauer gesagt, 1977.
Damit er nicht wieder und wieder sterben muss, muss jemand heute endlich zuhören und dem Mörder in den Arm fallen. Und das muss tun, wer das Gewaltmonopol für sich beansprucht – der Staat – und das muss einfordern, wer über die Lautsprecherqualitäten dazu verfügt, die Medien. Denn Kunst ist schön, macht, mit Karl Valentin gesprochen, aber viel Arbeit – und hat damit weiß Gott genug zu tun.
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