: Die Einschläge kommen näher
Das Wort „Israelkritik“ gibt es nur in der deutschen Sprache. Es steht für das verbreitete Desinteresse am Judenhass
Von Wenzel Michalski
Auf den ersten Blick wirkt das Wort harmlos. Natürlich darf man Israel kritisieren, so wie jedes andere Land auch. Zwar ist Israel eine Demokratie, aber wie bei Großbritannien, Schweden oder Deutschland auch heißt das nicht, dass eine Regierung perfekt ist oder dass man all ihren Entscheidungen zustimmt. Es ist zum Beispiel völlig legitim, nicht einverstanden zu sein mit der Besatzungs- und Siedlungspolitik der Regierung von Benjamin Netanjahu.
Allerdings ist die Kritik an Israel mit einer ganz besonderen Art der Empörung verbunden, sodass es sogar ein Wort dafür gibt: „Israelkritik“. Bemerkenswert, dass es keinen solchen Begriff für andere Länder gibt. In Italien regiert die rechtspopulistische Lega Nord mit und betreibt eine Migrationspolitik, die man als skandalös und menschenverachtend bezeichnen kann. Gibt es nun eine Italienkritik? Nein. Es gibt auch keine Österreichkritik, keine Amerikakritik, keine Ungarnkritik. Nicht einmal für Länder wie Russland oder China, in denen seit Jahrhunderten die Menschenrechte mit Füßen getreten werden und mit denen wir Deutschen enge wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen pflegen – und mit denen wir uns daher seit Langem auseinandersetzen –, gibt es solch eine Bezeichnung.
Das Wort „Israelkritik“ gibt es auch nur in der deutschen Sprache. Es gibt keine englische, keine spanische und auch keine französische Entsprechung dieses Pauschalausdrucks, obwohl ja auch in diesen Ländern nicht mit Kritik an der israelischen Regierung gespart wird. Als Jude in Deutschland drängt sich einem die Frage auf: Spiegelt nicht allein schon diese Tatsache die immer noch verkrampfte Beziehung der Deutschen zum Judentum wider? Spricht aus diesem Wort nicht eine immer noch tief sitzende Abscheu gegen alles Jüdische?
Der Kern des Problems ist, dass an Israel der moralische Maßstab weit höher gelegt wird als an andere Länder. Ich habe mit Menschen gesprochen, die ohne mit der Wimper zu zucken Geschäfte mit China oder Russland machen, die aber zu glühenden Menschenrechtsverteidigern werden, sobald es um den israelischen Siedlungsbau in den besetzten Gebieten geht. Diese Doppelmoral ist nach der global anerkannten Definition der International Holocaust Remembrance Alliance eindeutig antisemitisch, denn sie enthüllt, dass die Funktion von „Israelkritik“ eben nicht die normale Auseinandersetzung mit der Weltpolitik ist – sondern einfach eine neue Variante in einer langen, abscheulichen Geschichte, in der Juden für alles Schlechte auf der Welt verantwortlich gemacht werden.
Der Begriff erfüllt auch noch einen anderen perfiden Zweck: Er verhindert jede substanzielle Diskussion über Antisemitismus, indem er die Opfer-Täter-Rollen auf absurde Weise verdreht. Jeder Jude in Deutschland hat schon den Satz gehört: „Aber Israelkritik muss doch erlaubt sein, oder?“ Diese Frage kommt fast immer dann, wenn von Antisemitismus im deutschen Alltag die Rede ist. Sie hat eine Doppelfunktion: Zum einen wird mit diesem Argument die Aufmerksamkeit in eine andere Richtung gelenkt, sodass das Gespräch einen anderen Gang nehmen kann. Es ist ein Strohmannargument, denn niemand behauptet das Gegenteil. Niemand behauptet, dass es nicht erlaubt sei, Israel zu kritisieren. Zum anderen suggerieren die Gesprächspartner, dass die Juden pauschal schuld seien, sodass man sich über den eigenen Judenhass keine Gedanken mehr zu machen braucht. Welche weitreichenden Auswirkungen das haben kann, musste mein Sohn im vergangenen Jahr erleben.
Er wurde an seiner Berliner Schule, der Friedenauer Gemeinschaftsschule, von Mitschülerinnen und Mitschülern über Monate verbal und körperlich angegriffen und misshandelt, weil er Jude ist. Doch als wir darüber sprechen wollten, bekamen wir entweder direkt oder hinter unserem Rücken von der Schulleitung, aber auch von einigen Eltern zu hören, dass die Attacken mit dem Nahostkonfikt zu tun hätten und daher unvermeidlich seien. Einige, wie die Sozialarbeiterin der Schule, forderten sogar von uns, dass wir Verständnis für die Angreifer zeigen sollten. Schließlich hätten sie türkische und arabische Wurzeln und reagierten somit verständlicherweise stark abweisend, wenn sie einem Juden begegneten. Davon, dass es sich bei den Attacken um eindeutigen Antisemitismus handelte, war nicht die Rede. Vielmehr wollte man uns weismachen, dass die gewalttätigen Mobber durch die Begegnung mit meinem Sohn, dem Juden, zu politischen Aktivisten wurden und die Schläge, die er bekommen hatte, eine Art nachvollziehbare „körperliche“ Israelkritik gewesen seien.
Viele andere jüdische Kinder und Eltern mussten ähnliche Erfahrungen machen. Meist versuchten die Schulleitungen mit dem Hinweis auf den Nahostkonflikt den aufflammenden Judenhass zu entschuldigen, statt die Angriffe beim Namen zu nennen.
Wenn schwarze Kinder an der Schule wegen ihrer Hautfarbe von Mitschülern gequält werden, wirft man den Verantwortlichen zu Recht Rassismus vor. Beschimpfen und beleidigen Gruppen von Jungs ihre Mitschülerinnen, so ist der Vorwurf der Frauenfeindlichkeit berechtigt. Aber ähnliche Taten werden erfahrungsgemäß anders bewertet, wenn die Mobbingopfer Juden sind. Da es sich ja um „Israelkritik“ handelt, kann selbst gewalttätiger Antisemitismus verharmlost und relativiert werden. Die Berichte darüber häufen sich in letzter Zeit. An der Friedenauer Gemeinschaftsschule hängt immer noch das Schild „Schule ohne Rassismus“. Bei Antisemitismus gilt dieser hehre Vorsatz offensichtlich nicht.
Dass mein Sohn kein Einzelfall ist, konnte man in letzter Zeit in den Medien lesen. Landauf, landab scheinen Schulleiter nach dem Motto zu verfahren: Antisemitismus darf es an meiner Schule nicht geben. Was es nicht geben darf, kann es nicht geben. Und kommt es doch mal zu „Vorfällen“, wie es dann meist verharmlosend heißt, dann steckt natürlich „Israelkritik“ dahinter, kein wirklicher Judenhass.
Wenzel Michalski
ist Journalist und seit 2010 Direktor von Human Rights Watch Deutschland. Der Fall seines Sohnes, der an einer Berliner Schule antisemitisch angegriffen wurde, machte bundesweit Schlagzeilen.
„Israelkritik“ ist ein Vernebelungswort für legitimierten Antisemitismus. Wir kennen das aus der Politik. Wenn zum Beispiel Politiker darüber sprechen, dass das Christentum zu Deutschland gehört und nicht der Islam, heißt das nichts anderes als: Wir wollen hier keine Muslime, sie haben hier nichts zu suchen; es ist deswegen erlaubt, Angst vor der Islamisierung des Abendlandes zu schüren und eine islamfeindliche Politik zu propagieren. Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff „Israelkritik“, mit dem sich Juden ausgrenzen lassen und mit dem sie kollektiv geächtet und zur Verantwortung gezogen werden können.
Die Islamfeindlichkeit der Regierungen in Österreich, Italien, Ungarn und den USA, ja auch in Bayern ist erschreckend. Europa bewegt sich in eine gefährliche Richtung. So wird auch den Juden in Europa das Leben zunehmend schwer gemacht. In Ungarn hatte die judenfeindliche Anti-Soros-Kampagne der Regierung geholfen, die Wiederwahl von Viktor Orbán zu sichern, indem sie dem jüdischen Philanthropen George Soros ankreidete, mithilfe einer großen Zahl muslimischer Flüchtlinge den ungarischen Staat zerstören zu wollen. In Großbritannien erhofft sich die Labour-Partei Stimmen von Judenhassern und hat sich entschieden, ihre jüdischen Mitglieder und Stammwähler zu verprellen, da sie zahlenmäßig weniger ins Gewicht fallen. Auf ihrem letzten Parteitag hat sie es sogar zugelassen, dass bei einer der Nebenveranstaltungen darüber diskutiert wurde, ob der Holocaust stattfand oder nicht. In Frankreich fühlten sich die Juden nach den vielen brutalen Angriffen, auch auf Kinder, so sehr von der Polizei, der Politik und der Gesellschaft im Stich gelassen, dass viele nach Israel auswanderten, weil sie sich dort sicherer fühlen. Und in Deutschland macht unter uns Juden wieder das Wort von den gepackten Koffern die Runde.
Die Angriffe gegen Juden in Deutschland werden häufiger. Die Einschläge kommen immer näher, warnen die jüdischen Gemeindevorstände. Jüdische Kinder verlassen die staatlichen Schulen, auf der Straße nehmen immer mehr Juden ihre Kippa ab. Wir hören zwar nach jedem neuen bekannt gewordenen Angriff Beteuerungen und Versprechen. Aber wirkungsvolle Taten und tief greifende Initiativen sehen wir kaum. Wo bleiben Studienreform und Weiterbildung für Lehrer, Sozialarbeiter und Erzieher? Wo bleiben die entsprechenden Schulungen in Polizei und Justiz? Es gibt zwar jedes Mal Bedauern, aber kein Aufbäumen gegen den Antisemitismus. Umfragen und Statistiken belegen, dass der Antisemitismus weiterhin tief verankert ist in Deutschland. Und zwar in allen Gesellschaftsschichten und politischen Richtungen. Kein Wunder, dass das deutsche Wort „Israelkritik“ sich so hartnäckig hält.
Die Bundesregierung und der Bundestag haben sich im vergangenen Jahr der Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance angeschlossen, die eindeutig besagt, dass sich hinter „Israelkritik“ handfester Judenhass verbirgt. Auch die britische Labour Party hat sich nach langem Streit letzte Woche dieser Definition angeschlossen. Offiziell zumindest ist das Unwort nun geächtet. In der Gesellschaft aber ist diese Erkenntnis noch lange nicht angekommen. Deswegen ist es so wichtig, seine toxische Bedeutung zu entlarven. Dieser Herausforderung müssen sich Politik, Medien und Zivilgesellschaft endlich stellen. „Israelkritik“ darf keine Freikarte für Judenhass sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen