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Warnung vor DunkelzifferKinderarmut höher als befürchtet

1,4 Millionen mehr Kinder als angenommen sollen unter Armut leiden. Weil ihre Familien keine Staatshilfe beziehen, fehlen sie in der Statistik.

Armut in Familien bleibt oft im Dunkeln Foto: dpa

BERLIN taz | In Deutschland leben möglicherweise weit mehr Kinder in Armut, als die offiziellen Zahlen verraten. Der Kinderschutzbund geht davon aus, dass zahlreiche Eltern keine staatlichen Hilfen wie Wohngeld oder Kinderzuschlag beantragen, obwohl sie Anrecht darauf hätten. Stimmt die angenommene Dunkelziffer, leben weitere 1,4 Millionen Kinder in materieller Not, die bisher nicht in den Armutsstatistiken auftauchen, weil ihre Familien keine Sozialleistungen beziehen. Aktuell zahlt der Staat für 3 Millionen unter 18-Jährige Sozialleistungen. Als armutsgefährdet gilt, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Nettoeinkommens erhält.

Besonders hoch ist das Armutsrisiko für Haushalte von Alleinerziehenden – und davon gibt es viele. „Es geht hier um jede fünfte Familie in Deutschland“, sagte Bundesfamilien­ministerin Franziska Giffey (SPD). Oft zahlt der zweite Elternteil keinen oder zu wenig Unterhalt. Vor gut einem Jahr hat die Bundesregierung das Unterhaltsrecht reformiert: Seither übernehmen die Jugendämter bis zum 18. Lebensjahr der Kinder die Kosten – früher hörte die staatliche Vorschusszahlung von monatlich bis zu 273 Euro mit dem zwölften Geburtstag auf. Am Mittwoch zog Giffey im Kabinett Bilanz: Rund 700.000 Kinder erhalten aktuell staatlichen Vorschuss, vor der Reform waren es nur rund 300.000. Da so auch die Kosten für Bund und Kommunen steigen, soll künftig mehr Druck auf zahlungsfähige, aber unwillige Elternteile ausgeübt werden: Die Ministerin kann sich unter anderem Fahrverbote für Unterhaltszahlungssäumige vorstellen.

Die stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Katja Mast sagte der taz: „Für uns ist es zentral, die Bekämpfung von Kinderarmut konsequent anzugehen.“ Deshalb wolle man „ein großes Maßnahmenpaket auf den Weg bringen“. Unter anderem solle der Kinderzuschlag erhöht werden – doch der wird laut Kinderschutzbund von vielen gar nicht beantragt. „Wenn 70 Prozent der Eltern wegen bürokratischer Hürden vor einer Antragstellung zurückschrecken, dann muss die Bundesregierung handeln und eine Reform angehen“, sagte die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock der taz. Nötig sei nicht nur eine Erhöhung, sondern auch die automatische Auszahlung des Zuschlags. Ein Sprecher des Familienministeriums sagte der taz, der Zugang zu Leistungen solle künftig erleichtert werden. Katrin Werner von der Linksfraktion kritisierte, eine Erhöhung würde den Familien, die von Hartz IV leben, gar nicht helfen: Unterhaltsvorschuss und Kindergeld würden auf andere Leistungen angerechnet und somit das Budget nicht erhöhen.

Einem Baby steht rechnerisch Geld für Zigaretten zu, nicht aber für Windeln

Seit Jahren kritisieren Wohlfahrtsverbände, dass sich Sozialleistungen an Erwachsenen orientieren – so steht einem Baby rechnerisch Geld für Zigaretten zu, nicht aber für Windeln. Mehrere Verbände, Grüne und Linke fordern eine eigene Kindergrundsicherung. Die SPD will zunächst Kinderrechte im Grundgesetz verankern.

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8 Kommentare

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  • m Grunde genommen ist es egal, ob die weiteren 1,4 Millionen Kinder “eigentlich” armutsgefährdet sind (also auf gut deutsch: arm), oder ob sie knapp über der rechnerischen Armutsgrenze leben. 3 Millionen arme Kinder in Deutschland sind viel zu viele, noch mal 50% mehr: unmöglich. 4,4 Millionen von aktuell 13,4 Millionen Minderjährigen de.statista.com/st...er-in-deutschland/, das ist mehr als jeder dritte Minderjährige. Das Geld wird ja für wichtige andere Dinge gebraucht: Aufrüstung, Steuergeschenke an Unternehmen… Und eine Generation mit so schlimmen Erfahrungen sollen unsere Zukunft sein. Wenn so viele Kinder in Armut leben und es zu wenige Lehrer und zu viele kaputtgesparte Schulen gibt, wenn sich die Gesellschaft also ihre Kinder nicht leisten will, wieso wird dann immer geredet, es gäbe zu wenige Kinder? Dass SPD und Grüne, die via Hartz IV und massiven Lohnsenkungen schuldig sind an einem großen Teil dieser Entwicklung, plötzlich Aktionismus zeigen und angeblich “die Bekämpfung von Kinderarmut konsequent anzugehen” und „ein großes Maßnahmenpaket auf den Weg bringen” wollen, ist dann nur noch peinlich. Seit Hartz IV sind 15 Jahre ins Land gegangen, in denen alles noch schlimmer geworden ist. Quelle Nachdenkseiten

  • Viele schlimmer finde ich, dass die Mehrheit in Deutschland spätestens seit Adenauer, so indoktriniert sind, dass man heute mehr Kommentare über Flüchtlinge, oder Terror oder Kriminalität in den sozialen Netzwerken liest, obwohl Opfer eines Terroranschlags in Deutschland zu werden, ist geringer als vom Blitzschlag getroffen zu werden.

    Dagegen von Armut, Prekäre Beschäftigung, Leiharbeit sind schon heute nicht nur Millionen im aktivem Leben betroffen, sondern es werden noch Millionen hinzukommen, wenn hier nicht gegengesteuert wird.

    Wenn es schon heute im aktiven Erwerbsleben Millionen dank rot/grün von Armut betroffene gibt, wie wird das wohl dann aussehen, wenn alle die heute von Hartz IV, Leiharbeit, Werkverträge, usw. in Rente gehen, dann kommen noch einmal Millionen dazu.

    Nur hier liest man kaum etwas in den sozialen Netzwerken darüber? Liegt das an der Jahrzehnte langen Indoktination oder warum gehen nicht Millionen auf die straße und protestieren vor den Palästen derer die das zu Verantworten haben?

    Statt dessen wird lieber gegen Flüchtlinge und andere Minderheiten protestiert? Flüchtlinge sind aber nicht dafür verantwortlich, dass rot/grün die Armut per Gesetz eingeführt hat, dass die Renten immer niedriger werden? Immer mehr Arme sich heute überlegen müssen, kaufe ich mir Essen oder wohne ich?

  • Viele Studien belegen, dass arme Menschen wie z.B. Hartz IV-Empfänger eine deutlich kürzere Lebenserwartung haben. Das beweist wiederum, dass die HARTZ IV Sätze zu niedrig ausgelegt sind. Noch ist es schlimmer, wenn das Leben in Armut bereits beginnt, wenn man noch ein Kind ist.

  • Je mehr offiziell Arme es gibt, desto mehr gut dotierte Planstellen gibt es in der Armutsindustrie.

  • Wenn man mit offenen Augen durchs Leben und Deutschland geht, dann dürften Zweifel an solchen Statistiken auftauchen. Wo sind diese Millionen Kinder, welche in Armut leben? Werden sie versteckt? Mutter von zwei Kindern, 3 und 6 Jahre, bezieht für sich und die Kinder Leistungen nach Hartz IV. Den Vater der Kinder kennt sie nicht, gibt ihn nicht an. Tatsächlich lebt er mit ihr und seinen Kindern im gleichen Haushalt, ist aber offiziell an einem anderen Wohnsitz gemeldet. Dadurch kommt sein Einkommen on top drauf, ohne an die Sozialleistungen seiner Partnerin und Kinder angerechnet zu werden. Kontrollieren lässt sich sowas kaum, vor allem nicht in anonymen Städten. Manchmal sind die Eltern verheiratet, Ehe in anderem Land geschlossen und hier bewusst nicht angezeigt. Wie viele offiziell arme Kinder leben in solchen Meldekonstrukten?



    500.000?



    1 Million?



    Oder doch mehr?

    • @Karavanserai:

      Ich denke, es sind über 5 Mio.

    • @Karavanserai:

      Genau, und in Katar gibt es keine Sklaven.

  • Viele Menschen beantragen die ihnen zustehenden Beihilfen nicht, weil sie von den Mitarbeitern der Ämter regelrecht kriminalisiert werden, als asozial abgestempelt werden und häufig falsch informiert werden, denn leider glauben viele dieser Sachbearbeiter, dass das Geld aus ihren eigenen Taschen bezahlt werden soll!

    Aus eigener Erfahrung musste ich die Geschichte mit der Kriminalisierung erleben!



    Mir wurde, als alleinerziehender Vater einer 13 jährigen Tochter unterstellt, dass ich die Meldeunterlagen manipuliert hätte, denn das ein junges Mädchen bei seinem Mitte Fünfzig Jährigen Vater lebt und das auch noch freiwillig, konnte sich der Sachbearbeiter des Wohngeldamtes nicht vorstellen, weshalb ich das original Schreiben nochmals extra Beglaubigen lassen musste!



    Als ich dann auch noch bei meinem Verdienstnachweis ausländische Papiere vorlegte, war für ihn klar, dass es nicht mit Rechten Dinge zu ging, weshalb er den Antrag sofort mit der Begründung ablehnte, ich würde meiner Auskunftspflicht nicht nach kommen!



    Auch Antrag zwei wurde sofort abgelehnt! Der Dritte beim Amtsleiter steht nun noch aus, habe aber seit 4 Wochen noch nichts wieder von dem Amt zu hören bekommen!

    Die Willkür mit der Anträge bearbeitet werden, oder aber auch nicht ist extrem Nervenaufreibend! Da ich Erwerbsminderungsrentner bin, fehlen mir auch oft die Möglichkeiten direkt vor Ort Einfluss zu nehmen, denn ich bin schwer Gehbehindert.

    Den Antrag für das Parken auf Behindertenparkplätzen wurde zweimal abgelehnt, weil in meinem Rentenbescheid steht, meine Behinderung sei Psychosomatisch! Das diese Diagnose bereits vor Dreißig Jahren gestellt wurde und sich seit dem verändert hat, auf partielle Lähmung der Nervenbahnen in der Wirbelsäule und ich laut Prognose der Spezialisten innerhalb des nächsten Jahres vollständig an den Rollstuhl gefesselt sein werde, ändert nichts an der Ablehnung!

    Anträge zur Unterstützung meiner Tochter sind alle abgelehnt worden, da ich eine kleine Auslandsrente habe!!