: Fit werden für die Lesebühne
Der Göttinger Theaterpädagoge und Stimmlehrer Christian Römer bietet schon seit zehn Jahren eine Ausbildung zum Vorleser an. Im September beginnt sein neuer Kurs, in dem die Teilnehmenden lernen: Vorlesen ist beileibe nicht bloß Vorlesen
Von André Zuschlag
Vorlesen ist gar nicht so einfach. Ab September bietet deswegen der Göttinger Christian Römer – bundesweit einzigartig – eine Ausbildung zum Vorleser an. An fünf Wochenenden lernen die Teilnehmenden, dass beim Vorlesen auf der Bühne nicht allein die Stimme entscheidend ist, sondern dass Mimik, Gestik und Bewegung ebenso eine Rolle spielen.
Dabei richtet sich der Kurs an alle, die das lebendige, darstellende Vorlesen erlernen oder ausbauen möchten, sei es im privaten oder öffentlichen, in einem ehrenamtlichen oder professionellen Rahmen.
„In einer typischen Situation, etwa wenn ich meinem Kind etwas vorlese, habe ich mich ja meistens nicht auf den Text vorbereitet“, sagt Römer. Anders sieht das auf der Bühne aus. „Auf eine solche Theatersituation muss ich mich vorbereiten, um einen Text wirkungsvoll und lebendig rüberzubringen zu können.“ Um diese Lebendigkeit herzustellen, sei eine schöne Stimme zwar klar ein Vorteil, aber beim Vorlesen gehe es nicht einzig darum, damit einen Text fehlerfrei zu lesen.
Römer ist Theaterpädagoge und arbeitet als Atem-, Sprech- und Stimmlehrer. Er verweist auf Rufus Beck, den viele vor allem aus den Harry-Potter-Hörbüchern als Vorleser kennen. Dort spüre man, wie intensiv er sich auf das Vorlesen vorbereitet hat, sagt Römer. „Der hat jeder Figur eine eigene Stimme gegeben und man spürt als Zuhörer, dass er den Text emotional durchdrungen hat.“
Andere hingegen vertrauen ausschließlich auf ihre Stimme. Harry Rowohlt, legendärer Autor und Übersetzer, aber auch dank seiner markanten Stimme als Vorleser erfolgreich, war dafür ein Paradebeispiel.
Wohl jeder, der schon einmal vor einem Publikum reden musste, kennt die Nervosität in der eigenen Stimme. Eine zentrale Aufgabe in seinem Vorlesekurs sei deswegen der Umgang mit Lampenfieber, sagt Römer. Das gelte natürlich für jene, die auf einer Bühne stehen, also auch Schauspieler oder Musiker. „Statt diese Energie zu unterdrücken, soll sie in der Stimme, in der Haltung und in der Mimik eine Umsetzung finden“, sagt Römer.
Schon seit zehn Jahren unterrichtet Römer das Vorlesen. An fünf Wochenenden findet seine Ausbildung statt, dieses Jahr beginnt sie Anfang September und endet im Mai. Maximal zehn Personen nimmt Römer für den Kurs auf – individuelle Betreuung sei bei größerer Teilnehmerzahl sonst nicht mehr möglich, sagt er.
Bisher waren es vor allem Frauen, die an dem Kurs teilnehmen. Die Motivation ist bei den TeilnehmerInnen ganz unterschiedlich. Für manche, sagt Römer, sei der Kurs als Persönlichkeitsentwicklung gedacht, andere wollen oder haben bereits Kindern oder auch älteren Menschen vorgelesen. Zudem seien da auch noch diejenigen, die die Bühne bereits kennen und sich mit der Ausbildung professionalisieren wollten. Und alle eint das Interesse an Literatur.
Dabei, so sieht es Römer, ist der Kurs eine Starthilfe für alle, die danach auf die Bühne drängen. Unmittelbar nach dem erfolgreichen Abschluss komplett auf das professionelle Vorlesen zu setzen, empfiehlt Römer allerdings nicht. Denn Lesungen seien Teil der Kleinkunst, davon zu leben nicht ganz einfach.
Dennoch: Mit Abschluss der Ausbildung sind alle TeilnehmerInnen in der Lage, ein eigenes Programm zu gestalten und Lesungen zu halten und zu organisieren – ob im Kindergarten, im Altenheim oder in Cafés und auf Bühnen. Das Programm, das jeder während der Ausbildung selbst entwickelt, kann später problemlos erweitert werden, ob nun auf 45 oder gar 90 Minuten.
„Goethes ‚Zauberlehrling‘ ist meist ein guter Text, um zu lernen was es heißt, sich in eine Figur hineinzuversetzen“, sagt Römer. Den Text könne natürlich jeder vorlesen, aber es gehe darum, in der Vorbereitung eine Nähe zur Figur, also zum Zauberlehrling aufzubauen. Erst wenn der Lesende sich in die Figur hineinversetzt, äußert sich das in der Stimme. „Dann kann man emotional andocken und das verleiht beim Vorlesen Authentizität“, sagt Römer.
Aufgebaut ist die Ausbildung in fünf Schritte. Zunächst werden Atem-, Sprech- und Stimmtechniken gelernt. Damit lässt sich schon ein lebendiges Vorlesen erzeugen. Im zweiten Schritt lernen die Teilnehmenden, unterschiedliche Stimmen zu erzeugen, wenn es verschiedene Figuren in einem Text gibt. Danach richtet sich der Fokus auf die Präsentation: Was muss man beachten, wenn man auf der Bühne steht? Wie führt man angemessen in einen Text ein, bevor man mit dem Vorlesen beginnt? Im vierten Schritt lernen die Teilnehmenden, wie sie sich auf eine Lesung vorbereiten. Dazu gehört auch das Zusammenstellen eines eigenen Programms.
Den Abschluss bildet, wie Römer es nennt, die „Feuertaufe“: Alle TeilnehmerInnen nehmen an der öffentlichen Abschlussvorlesung teil. „Immer wieder fragen mich Interessierte, ob sie das auslassen können. Da sage ich immer Nein, denn genau um das öffentliche Auftreten geht es ja“, sagt Römer.
Manche Texte seien sehr schwer zu lesen, sagt Römer und verweist exemplarisch auf Thomas Mann und seine vielen verschachtelten Sätze. Und manche Texte liegen einem auch nicht: bei ihm sind es Werke von Rilke, die, so Römer, andere viel besser vorläsen als er. Seine KursteilnehmerInnen aber sollen sich auch an Texten versuchen, die sonst nicht zur eigenen Lieblingsliteratur gehören.
Obwohl Römers Ausbildung in dieser Form bundesweit einzigartig ist, kann man in spezialisierter Form auch woanders das Vorlesen erlernen: So bietet in Schleswig-Holstein der „Märchenhof Rosenrot“ eine Ausbildung zum Märchenerzähler an und das Hannoveraner Raile-Institut lehrt „Heilsames Erzählen“: Das konzentriert sich auf die therapeutischen und pädagogischen Wirkungen beim Vorlesen.
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