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Sozialpädagoge über Türkei-Wahl„Nicht alle sind Antidemokraten“

Knapp eine halbe Million Wähler*innen in Deutschland haben Erdoğan gewählt. Die Hintergründe erklärt der Bundesvorsitzende der Türkischen Gemeinde.

Sie wollen einen starken Machthaber in der Türkei: Erdoğan-Fans in Berlin Foto: ap
Interview von Miriam Schröder

taz: Herr Sofuoğlu, in Deutschland haben zwei Drittel der Wähler*innen für Erdoğan gestimmt. Überrascht Sie das?

Gökay Sofuoğlu: Ich bin nicht überrascht. Im Vorfeld habe ich eine gewisse Wechselstimmung wahrgenommen – viele Leute haben angekündigt, nicht für Erdoğan zu stimmen. Das war dann ein Ansporn für AKP-Anhänger, in den letzten Tagen noch einmal richtig zu mobilisieren. Dabei waren sie wohl erfolgreich.

In Deutschland scheinen viele überrascht, dass Menschen, die hier leben, für einen Autokraten wie Erdoğan stimmen.

Hier in Deutschland wird auch die AfD gewählt – von Menschen, die hier leben. Es handelt sich um ein internationales Phänomen, das auch von der Türkei nicht fernbleibt. Man sucht nach einem starken Führer und nach einer starken Nation. Und genau das bietet Erdoğan an. Außerdem sind viele Türken, die nach Deutschland gekommen sind, keine Akademiker und sehr konservative Wähler.

Bild: dpa
Im Interview: Gökay Sofuoğlu

Gökay Sofuoğlu, Jahrgang 1962, wurde in Kayseri (Türkei) geboren und kam 1980 nach Deutschland. Der Sozialpädagoge ist Chef der Türkischen Gemeinde in Deutschland.

Welche Gründe gibt es für hier lebende Türk*innen, für Erdoğan zu stimmen?

Da spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. Die Menschen kennen die Türkei nur aus ihren Urlauben – und dort sehen sie keine Menschenrechtsverletzungen. Was sie sehen, sind die Flughäfen, die Autobahnen, die Krankenhäuser, die aus ihrer Sicht Erdoğan zu verdanken sind. Fast die Hälfte der Menschen wählt ihn, weil er – aus ihrer Sicht – aus der armen Türkei eine Weltmacht gemacht hat.

Was hat das Wahlverhalten der in Deutschland lebenden Wähler*innen mit der politischen Situation hier zu tun?

So sehen die Zahlen konkret aus

In Deutschland leben gut 2,8 Millionen Menschen mit türkischem Migrationshintergrund – so steht es im

aus dem Jahr 2015. Davon hat knapp die Hälfte selbst Migrationserfahrung. Gut 1,5 Millionen sind in Deutschland geboren.

Die Hälfte der Deutschen mit türkischem Migrationshintergrund ist in der Türkei wahlberechtigt – also 1,4 Millionen. Nur etwa die Hälfte von ihnen hat ihr Wahlrecht wahrgenommen. Somit haben am Sonntag etwa 700.000 Menschen in Deutschland ihre Stimme abgegeben. Etwa 65 Prozent davon haben wiederum für Erdoğan gestimmt. Das sind etwa 455.000 Menschen.

Von der Gesamtzahl der Menschen mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland sind das wiederum nur 16,25 Prozent. Es haben also nicht zwei Drittel aller Deutschtürk*innen für Erdoğan gestimmt – sondern nur ein Sechstel. (bg)

Die türkische Innenpolitik ist seit einigen Jahren sehr präsent in Deutschland. Ich muss immer wieder kommentieren, was in der Türkei passiert, und selten, was in Deutschland passiert. Jede Entwicklung in der Türkei wird mit dem Leben in Deutschland in Verbindung gebracht. Dabei habe ich keinen Italiener getroffen, der Stellung zu der neuen Regierung in Italien nehmen musste. Dass andauernd über Erdoğan gesprochen wurde, hat auch dazu geführt, dass sich viele denken: Wenn alle Welt von ihm redet, kann er ja so schlecht nicht sein.

Hat das auch etwas mit der Enttäuschung von deutscher Politik zu tun?

Auf jeden Fall. Gerade in der Debatte über die Fotos von Gündoğan und Özil mit Erdoğan gab es eine gewisse Türkei- und Islamfeindlichkeit. In so einer Situation denken viele: Wir brauchen eine starke Führung, die für uns spricht. Und Erdoğan hat ihnen das Gefühl gegeben: Ihr seid nicht allein.

Cem Özdemir sagt, der Jubel wegen Erdoğans Sieg sei als eine Ablehnung der liberalen Demokratie zu verstehen.

Solche Aussagen führen nur zu einer weiteren Polarisierung. Wir brauchen jetzt eine Versachlichung der Politik und eine differenzierte Haltung gegenüber den AKP-Wählern. Das sind nicht zu hundert Prozent Antidemokraten, die ein Problem mit liberalen Haltungen haben.

Was bedeutet das für die türkische Gemeinschaft in Deutschland?

Ich sage mal, was ich mir wünsche: dass man die Wahlen als beendet erklärt und zur Tagesordnung zurückkehrt. Die Zukunft der Menschen hier wird in Berlin entschieden und nicht in Ankara.

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4 Kommentare

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  • Warum gibt es so viele AFD Anhänger unter den Deutschen, obwohl sie genauer als alle anderen wissen sollten, wo diese Politikorganisationen, wie die Populistische, neonazistische Partei der AFD hinführt!

     

    Weil es Menschen gibt, die durch falsche Versprechungen und Lügen, so wie kriegerische Überfälle auf andere Gruppen oder Staaten innenpolitische Diskrepanzen verdecken wollen, so wie es Erdogan gerade macht!

     

    Es ist eine Spirale, die sich fast nicht unterbrechen lässt, wenn sie erst einmal begonnen hat.

    Die Autokraten versprechen unter dem Deckmantel der Demokratie den Himmel auf Erden, sobald sie aber ihr Ziel erreicht haben, wird das Volk die Knute zu spüren bekommen!

     

    Die Türken in Deutschland, genauso wie die Deutsch Türken wurden von der hiesigen Politik über Jahrzehnte hinweg allein gelassen, so dass sich eine Parallelgesellschaft gebildet hat mit dem Narrativ, Die gegen Uns!

     

    Gerade Merkel hat am Meisten vertrauen bei den jungen Deutschtürken verspielt, in dem sie mit Erdogan einen dermaßen abwertenden Eiertanz um das goldene Kalb, Beitritt zur EU gemacht hat!

     

    Des Weiteren hat Erdogan den Islam wieder im öffentlichen Leben der Türkei voran gebracht, der durch das Bemühen einer säkularen Türkei durch die Kemalisten zurück gedrängt wurde!

    Der Glaube spielt hier auch eine sehr große Rolle, wie man am Einfluss der AKP gesteuerten DITTIB in den Moscheen sehen kann. Dort wird auch der Einfluss Erdogans gepredigt!

     

    Das dürfte auch der Grund sein, weshalb so viele ihre Stimme für ihn abgegeben haben, obwohl sicher auch viele nicht mit allem Einverstanden waren, was Erdogan so alles treibt, oder es auch gar nicht wissen wollten!

     

    Aber er stellt sich als großer, starker Politiker hin, während unsere Regierung seit Jahren nur so um den Heißen Brei herum eiert, nichts auf die Reihe bekommt und wenn etwas dabei heraus kommt, ist es meist ein fauler Kompromiss, zum Machterhalt einiger Weniger!

     

    Eine starke Kanzler/in wäre gut für Deutschland und die EU, welch ein Traum?!

  • Richtig, in Deutschland wird auch die Afd gewählt. Bei der letzten Bundestagswahl waren das 12,6%. Schon die rechtsradikalen grauen Wölfe haben in Deutschland 2015 7,5% geholt und die sind klare Feinde einer liberalen Demokratie.

  • Das scheitern von Integration ist gerade bei den Erdogan Wählern in Deutschland besonders zu sehen. Es wird nie Integration geben, wenn hier lebende Menschen für andere Länder wählen dürfen. Die Schuld wieder einmal den Deutschen in die Schuhe zu schieben ist billige Polemik.

  • Ich würde das alles auch nicht zu hoch hängen. Allerdings erleben Deutsch-Türken ja auch nicht die Transformation der Türkei, die Einschränkung der Demokratie, der freien Presse und die Drangsalierung der Menschen mit den von der AKP vorgegebenen moralischen, politischen und sozialen Werten. Es ist insofern für diese Menschen leicht, das Land aus einer erweiterten Uralubsperspektive zu betrachten. Und aus der sieht das alles nicht so dramatisch aus. Würde man hier lebende Kurden fragen, wäre das Bild gänzlich anders, denn hier ist klar, dass Jahre des Bürgerkriegs, der extralegalen Aktivitäten der Sicherheitsdienste folgen werden. Das gab es ohnehin schon und es hat ja jetzt bereits begonnen. In den Gefängnissen sitzen schon viele Mitglieder der HDP. Vermutlich folgen bald welche von Iyi Parti, CHP, Saadet Parti und anderen eher kleineren Parteien.