: Dritte Halbzeit
Samstagnacht, 21.52 Uhr: Deutschland hat in Russland gewonnen. Doch was passiert in den 45 Minuten nach Abpfiff in der Hauptstadt des Siegers? Eine Reportage über die dritte Halbzeit auf der Fanmeile und abseits davon
VonNadia Al-Massalmeh, Nele Hüpper, Annika Schmidt und Sophie-Kristin von Urbanowicz
1. Minute: Im King’s Pub am Kurfürstendamm sitzen die beiden Stammgäste Ingo und Frank. Zusammen mit der Wirtin aus Sotschi haben sie im hinteren Raum der Gaststätte das verrückte Fußballspiel geguckt und sind erleichtert. „Fernseher aus“, sagt die Wirtin unmittelbar nach Abpfiff. „Bier oder Schnaps?“, fragt sie und schickt ihre insgesamt drei Gäste an den Tresen. „Hab extra die Kerzen so aufgestellt“, sagt sie und präsentiert ihre schwarz-rot-goldene Teelichtkombi, die sich gut in das üppig beflaggte Ambiente des Pubs einfügt. Aus den Lautsprechern tönt „Living in America“. Währenddessen steigt auf der völlig durchnässten Fanmeile Matze Knop auf die Hauptbühne am Brandenburger Tor. „Jogi, Jogi, Jogi, Jogi Löw!“ schallt aus tausenden Kehlen, gefolgt von Rufen: „Die Nummer eins sind wir!“ und „Schland!“. Es wird gehüpft, Bier geduscht und via Smartphone den Social-Media-Freunden mitgeteilt, dass die Fanmeile bester Stimmung ist.
5.: „Junge, Junge, Junge. Dit hätten wa fast vermasselt.“ Ingo, Endvierziger, der sich während der Partie in der Kneipe schon als möglicher Jogi-Nachfolger ins Spiel gebracht hatte, muss erst mal durchatmen. Frank analysiert derweil Russlands Putin, Napoleon und die Machtambitionen kleiner (Staats-)Männer.
10.: Die Wirtin erinnert sich an 2014: „Es war unglaublich. Hier war was los!“ Die ersten hupenden Autos rauschen am Eingang vorbei. Frank und Ingo trinken ihr letztes Bier, klopfen auf den Tresen. „Mach et jut“, sagt Ingo.
12.: Auf der Hauptbühne der Fanmeile gibt sich das Who’s who der DSDS-Prominenz das Mikrofon in die Hand, um die Fanmasse mit deutschsprachigem Pop zu begeistern. Annemarie Eilfeld singt davon, dass wir jeden Morgen einfach abheben. „Und es geht so, so, so, so, so, so, so, so hoch hinaus!“, während die Stimmung unter den Feiernden auf der Fanmeile einfach so, so, so, so, so, so, so, so weit in den Keller sinkt. Nieselregen und Kälte ziehen durch die Kleidung bis auf die Haut.
18.: Direkt vor der Kneipe beginnt der Autokorso auf dem Ku’damm. Die ohne Auto versammeln sich auf dem Grünstreifen in der Mitte der Fahrbahn. Steht man hier, gleicht das Hupkonzert einem Bienenschwarm, der unaufhörlich um etwas herumschwirrt. Nur eben lauter. Viel lauter.
20.: Von den laut Veranstaltern knapp 10.000 Fans, kleben nur noch wenige hundert vor der Hauptbühne. Vor den anderen Großbildleinwänden entlang der Straße des 17. Juni lassen nur die zertretenen Plastikbecher darauf schließen, dass hier mal Fanmassen standen. Die Lautstärke der Fans, die animiert vom Moderator auf der Hauptbühne eine Karaokeversion von „An Tagen wie diesen“ der Toten Hosen singen, kommt nicht an die Jubelschreie nach dem Siegtor heran. Ein Fan mit Reisekoffer bahnt sich den Weg durch den Plastikmüll auf dem nassen Asphalt.
22.: An der Kreuzung Kurfürstendamm/Joachimstahler Straße erreicht die Euphorie ihren Höhepunkt. Die Autos stehen so dicht wie die Fans auf der Fanmeile während des Spiels und drücken kräftig auf die Hupe. Es regnet immer noch. Es fühlt sich an, als wäre Deutschland gerade Weltmeister geworden. Dabei hat es nur sein zweites Gruppenspiel gewonnen.
30.: Wie in einem schlechten Film, bei dem Komparsen ohne schauspielerische Erfahrung angehalten sind, zu jubeln, hüpfen zwei Männer mittleren Alters Arm in Arm über die Fanmeile und rufen „Deutschland, Deutschland!“
34.: Auspuff an Auspuff röhrt am Grünstreifen vorbei, der sich inzwischen zum Partyzentrum entwickelt hat. Nicki, 38, ist auch hier. Ohne Flagge. „Da oben, da hängt noch ein Stückchen Fahne.“ Sie zeigt auf eine Kreuzungsampel. „Die haben wir vor vier Jahren da angebracht.“ Mit „wir“ meint sie ihre Freunde, mit denen sie die WM 2014 geschaut und gefeiert hat. „Wo die heute sind? Im Urlaub, bei privaten Feiern oder ihren Kindern.“ Sie hat das Spiel zu Hause vor dem Fernseher geschaut, lobt Marco Reus und die schwedische Abwehr. „Nach dem Abpfiff bin ich dann hierher.“ So ganz viel sei nicht mehr übrig vom WM-Charme vor vier Jahren. Von dem bisschen Regen lasse sie sich aber nicht abschrecken. Sie glaubt auch an ein Weiterkommen der Nationalmannschaft. Sie zieht wieder ihre Kapuze ins Gesicht und bändigt eine Locke auf der Stirn.
37.: Auf der Fanmeile stehen sieben Polizisten Rücken an Rücken im Kreis und wirken bedrohlicher, als sie sein müssen. Dennoch beantworten sie freundlich Fragen von Touristen und zeigen ihnen den Weg. Auch die betrunkenen Fanmeilenbesucher können sie nicht aus der Ruhe bringen.
41.: Für Amy, 26, ist es nicht so wichtig, auf wen die Mannschaft als Nächstes trifft. Sie breitet mit ein paar Jungs, die sie gerade auf dem Grünstreifen getroffen hat, eine fünf Quadratmeter große vor Wasser triefende Flagge aus. „Super Deutschland! Olé, olé!“ Ein Streifen hüpft, die Straße hupt.
42.: Hinter der dritten Leinwand ist die Fanmeile bereits komplett ausgestorben. Anders als vor dem Brandenburger Tor liegen hier kaum zertretene Plastikbecher und geplatzte Klatschstangen. Auf die Frage warum es hier so sauber sei, antwortet ein Security-Mann lachend: „Die Menschen wollen immer nach vorne, hier hinten waren wohl die kultivierteren Fans.“
45.: Die 26-jährige Amy hat ihre Freunde nach dem Spiel unterwegs verloren. Egal. Eine Jacke hat sie nicht dabei. Egal. Und dass der Sieg erst einer in der Vorrunde war, auch egal. Nur eins wollten sie und die Flaggenjungs dann doch noch wissen: „Sag mal, wer hat eigentlich den Freistoß geschossen?“
45. + 7.: Eingehüllt in seine überdimensional große Fahne und die Einsamkeit der Masse, steht ein Schwedenfan allein im Regen. Umarmungen von emphatischen Deutschlandfans lässt er über sich ergehen und starrt völlig verdattert auf die große Leinwand, auf der sein Team bis zur 94. Minute mit dem Weltmeister mithalten konnte. Er will nicht über das Spiel reden.
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