Präsidentschaftswahl in der Türkei: Muharrem İnce tritt für die CHP an
Die Oppositionspartei CHP schickt Muharrem İnce gegen Erdoğan ins Rennen. Er gilt als guter Redner und tritt entschlossen auf.
Die größte türkische Oppositionspartei CHP hat Muharrem İnce als Präsidentschaftskandidaten nominiert. Der Abgeordnete aus dem westtürkischen Yalova soll bei der vorgezogenen Präsidentschaftswahl am 24. Juni gegen Recep Tayyip Erdoğan ins Rennen gehen, wie der Parteivorsitzende der CHP, Kemal Kılıçdaroğlu am Freitagmorgen vor Tausenden jubelnden Anhängern in einer Sportarena in Ankara offiziell verkündete.
„Mit der Erlaubnis Gottes und dem Willen der Nation werde ich am 24. Juni zum Präsidenten gewählt“, sagte Muharrem İnce auf der Bühne und kündigte an: „Ich trete nicht nur als Kandidat für die CHP an, sondern um der Präsident von 80 Millionen Kurden, Türken, Aleviten und Sunniten zu sein.“ Aus dem Publikum kamen „Präsident İnce“-Rufe. Der 54-Jährige versprach, ein unparteiischer Präsident zu sein und nahm auf der Bühne sein Parteiabzeichen vom Revers ab. Kılıçdaroğlu steckte ihm symbolisch eine Türkeifahne an.
İnce wurde 1964 als Sohn eines Landwirts in einem Dorf in der Provinz Yalova geboren. Nach seinem Studium an der Balıkesir Universität arbeitete er als Physiklehrer und Schulrektor und wurde später Pressesprecher des Fußballvereins Yalovaspor. Seit seinen Jugendjahren ist İnce CHP-Mitglied, ins Parlament wurde er 2002 gewählt. Zudem war er Präsident des Vereins Atatürkçü Düşünce Derneği („Verein zur Förderung der Ideen Atatürks“).
Er gilt als überzeugter Atatürk-Anhänger, temperamentvoller Redner und scharfer Kritiker Erdoğans. Seine Rede in der Sportarena in Ankara am Freitagmorgen hielt er frei. Gegen Recep Tayyip Erdoğan und die Regierungspartei AKP richtete er deutliche Worte. „Sie stehlen nicht nur unsere Zukunft, sondern auch die unserer Kinder und Enkel“, sagte er. „Wir werden uns unsere Zukunft zurückholen.“
Kritik an der Parteispitze
Auch vor parteiinterner Kritik schreckt Muharrem İnce nicht zurück. Zweimal trat er bei der Wahl zum Parteivorsitzenden gegen Kemal Kılıçdaroğlu an, konnte aber weder 2014 noch im Februar 2018 eine Mehrheit erlangen. Auf dem CHP-Parteikongress im Februar forderte er einen Wandel in der CHP, der Kritiker seit längerem die Unfähigkeit zu wirksamer Opposition vorwerfen.
Besonders hart kritisierte er die Parteispitze auf dem Parteikongress dafür, dass sie im Mai 2016 für die Aufhebung der Immunität von HDP-Abgeordneten gestimmt hatte, was den Weg für die Verhaftung etlicher HDP-Mitglieder ebnete. İnce selbst hatte im Parlament gegen die Aufhebung der Immunität gestimmt. „Die Parteispitze hatte Angst, dass uns die Regierung mit der HDP in einen Topf wirft. Soll sie doch. Können die Kurden nicht im Recht sein?“, sagte er und fügte an: „Zuerst verhaften sie HDP-Mitglieder, danach uns.“ Dafür bekam er tosenden Applaus von den CHP-Mitgliedern. Für eine Mehrheit reichte es dennoch nicht, Kemal Kılıçdaroğlu wurde erneut zum Parteivorsitzenden gewählt.
Nach langen Beratungen der CHP, wen die Partei als Präsidentschaftskandidaten nominieren sollte, stimmten am Freitagmorgen alle 110 CHP-Abgeordneten für Muharrem İnce. Damit schickt die CHP einen entschlossenen Abgeordneten ins Rennen, der von der Parteibasis akzeptiert ist und entschieden gegen Erdoğan antritt. Kılıçdaroğlu respektierte das demokratische Verfahren innerhalb der Partei und überließ seinem früheren Rivalen, der von der Parteibasis unterstützt wurde, den Vortritt.
Neben der İyi Partei, für die die ehemalige Innenministerin Meral Akşener als Präsidentschaftskandidatin antritt und der prokurdisch-linken HDP, für die der ehemalige Co-Vorsitzende Selahattin Demirtaş aus dem Gefängnis heraus kandidiert, hat die CHP als letzte Oppositionspartei mit Muharrem İnce nun einen Kandidaten, der für CHP-Anhänger eine wählbare Alternative ist. Ob İnce gegen Erdoğan eine Chance hat, ist allerdings fraglich.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen