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„Die Strese lebt“

Die Stresemannstraße in Hamburg ist allein dadurch bekannt, dass sie gesundheitsgefährdend ist. Wer sie entlanggeht, erfährt viel über Vergänglichkeit, Kampfgeist und Karl Marx

Von Friederike Gräff

Immer und immer hat dieses Transparent in einem Fenster eines weißen Hauses in der Stresemannstraße gehangen. Im zweiten oder dritten Stock und erstaunlich viele Leute kannten es, erstaunlich, denn wer schaut in einer Hauptverkehrsstraße schon nach oben in die Fenster. „You are not struck in traffic – you are traffic“ stand auf dem Transparent. „Ride a bicycle“. Und ausgerechnet jetzt, wo die Diesel-Autos aus der Strese verbannt werden sollen, ist das Transparent verschwunden. Aus einer Straße, die nur deshalb über Hamburg hinaus bekannt geworden ist, weil die Autos und Lastwagen, die hier jeden Tag zu Abertausenden durchrollen, zuverlässig so viel Stickstoffoxid ausstoßen, dass es jegliche Grenzwerte übersteigt.

Der Nachbar im nächsten Haus, Holger Sülberg, glaubt, dass es der Sohn einer Frau aus dem obersten Stock war, der das Transparent aufgehängt hat. „Das ist lange her“, sagt Sülberg, der schon 20 Jahre hier lebt. Wenn man dann durch das breite Treppenhaus mit der großen Rosette im Eingang geht, die geschwungene Treppe hinauf und ganz oben klingelt, öffnet ein netter junger Bärtiger, der nichts mit dem Transparent zu tun hat. Das hat auch nicht der mittelalte Mann einen Stock darunter, aber der glaubt zu wissen, dass es jemand aus der WG einen Stock tiefer ist, jemand, der Fahrräder entwickelt.

Einen Stock tiefer öffnet ein junger Mann mit Rastazöpfen, ja, sagt er, das ist mein Mitbewohner. Dann kommt Christian Rusche selbst an die Tür, kichert mit dem anderen und sagt: „Ich habe es gewaschen.“ Es sei nicht so weiß geworden, wie er es gehofft hatte. Und weil man eh schon im Flur steht, bitten sie einen hinein in die WG-Küche, „Friede am Herd ist Goldes wert“ steht dort auf einem Kachelfries. Rusche wohnt seit zehn Jahren in der Strese, er hat noch gegen die Pläne der CDU-FDP-Schill-Koalition unterschrieben, die Tempo 30-Zone in der Strese aufzuheben.

Die Strese hat einmal Karl-Marx-Straße geheißen, und der Name würde ihr hier hinten auch heute gut zu Gesicht stehen

Geht man die Strese zwei, drei Kilometer entlang Richtung Bahrenfeld, findet man unter einem dunklen Vorsprung einen englischen Buchladen. Der Staub der Straße scheint ins Dämmer drinnen hineingeweht zu sein; unmöglich zu sagen, wie lange die riesigen Chipstüten, „Walkers Familiy Classics“ und Joseph Conrads „Lord Jim“ im Schaufenster liegen. An der verschlossenen Tür hängt ein handgeschriebener Zettel: „Dear pal Robert“, steht darauf, „hope this rush hour finds you well and in good health“.

Die Stresemannstraße ist kein gesundheitsförderlicher Ort. Wie sollte sie, als Bundesstraße und innerstädtische Abkürzungsroute für die LKWs? Eine, wo sich die Anwohner in den dunklen 70er-Jahren, so sagt es Holger Sülberg, in ihre Wohnungen verkrochen, während die Autos mit 50 Stundenkilometern durch die Straße donnerten. Viele Alkoholiker habe es gegeben, viel Prostitution in den Wohnungen. Geändert hat sich das, nachdem das zweite Kind in der Straße von einem LKW getötet wurde. Und die Leute begannen, sich aus Protest auf die Straße zu stellen, einfach nicht weggingen, auch nicht, als die Polizei kam. Die Strese, könnte man sagen, zeigt, dass es sich lohnt zu kämpfen. Sie zeigt auch, dass man sich Gesundheit leisten können muss. Und an manchen Stellen lässt sie etwas erahnen von der Verletzlichkeit der Leute.

Holger Sülberg kennt alte Fotos der Stresemannstraße, als ein Teil von ihr noch „Kleine Gärtnerstraße“ hieß und an Stelle der Bürgersteige Vorgärten erblühten. Und wenn er von seinem Balkon auf den gegenüberliegenden Backsteinklotz sieht, denkt er an das Altenheim, das früher einmal dort stand, umgeben von einem kleinen Park. „Die Qualität von Alter und Geschichte“ hat ihn in diese Wohnung gebracht, die er vor über 20 Jahren noch selbst renovieren konnte. Inzwischen ist er selbst Teil der Geschichte dieser Straße, seit er mit anderen die zweite Anwohnerinitiative gründete, die gegen eine Aufhebung des Tempolimits und eine Auflösung der Busspuren protestierte.

Inzwischen haben sich die Kontakte der Anwohner verloren, viele sind weggezogen. Im Haus kennt man sich noch, aber man feiert nicht mehr gemeinsam. Früher, als die Mieten noch niedrig waren, so erklärt es sich Sülberg, hatten die Leute vielleicht schlicht mehr Zeit. „Jetzt müssen sie ihren Job durchziehen.“

Und doch: „Die Strese lebt“, sagen die WG-Männer nebenan. Der Lärm stört sie nicht, sie sprechen vom „Strese-Flair“ und Rusche, der Älteste, erinnert sich daran, wie sein früherer Mitbewohner Pohlmann, der als Musiker inzwischen zu Ruhm gekommen ist, seinen Verstärker auf den Balkon schaffte. Als er spielte, versammelte sich eine Menschentraube auf der Straße, die schließlich von der Polizei zerstreut werden musste. Vom Balkon aus sieht Rusche auf die Verkehrsinsel, wo lange ein kleines Kreuz stand, er kann nicht sagen, seit wann es verschwunden ist. Die Strese bleibt nicht, wie sie ist, natürlich nicht, und man kann sich höchstens über die Spurenlosigkeit dieser Veränderungen wundern.

Sie lebt ein vielfältiges Leben, das unten, auf St. Pauli, mit einem Biosupermarkt und ein paar Start-ups in den Erdgeschossen beginnt, mit großen Konferenztischen und Namen voller Ambitionen. Man läuft ein paar Hundert Meter, vorbei an Häusern voller Stuckverzierungen und sorgfältig gearbeiteten Frauenfiguren an den Portalen, die fast alle zugesprayt sind. Vorbei an einem Wohnprojekt, das sich ein paar kostbare Meter vom Straßenrand zurückziehen durfte, vorbei an der Klubprominenz unter der Sternbrücke, deren Zeit wegen der anstehenden Brückensanierung gezählt ist.

Dahinter wird die Strese ruppiger. Gegenüber einem Groß-Supermarkt will ein Umsonstladen kapitalistische Mechanismen aufbrechen und bittet schon an der Tür darum, nur so viel mitzunehmen, wie man wirklich braucht. Ein Salon bietet Thai-Massagen an, aber im Schaufenster fehlt die Zahl vor dem Euro pro Minute und ein paar Häuser weiter werden Militaria verkauft, die „Geschichte der Deutschen U-Boot Waffe seit 1906“ für 24,90 Euro oder „Faust-Feuerwaffen aus 5 Jahrhunderten“.

Erdgeschosswohnungen gibt es in beiden Teilen der Straße, aber hier scheinen es mehr zu sein, und was man von ihnen sieht, ist trostloser. Es gibt welche mit bunten Gardinen, mit Arrangements von Kunstblumen und Mädchenfiguren mit Schleifen in den Zöpfen. Es gibt aber auch solche, bei denen die Fenster bloß verhangen sind. Und wenn man in das eine, unverhangene guckt, im Dunkeln nichts erkennt und weitergeht, dann streckt plötzlich ein junger Mann mit Baseballcap den Kopf heraus und sieht einem nach mit einem Blick, der so starr ist, dass man schneller läuft.

Lange Zeit war die Strese ein Ort, an dem man nicht leben wollte. Als Miriam Beck* vor 14 Jahren dort einzog, winkten alle anderen ab, denen die Wohnungen angeboten wurde. Sie sagte zu, weil die Nähe zum Dammtor fürs Pendeln praktisch war und die Miete niedrig, vor allem aber, weil Freunde im Haus wohnten. Heute bitten sie die Leute, doch Bescheid zu sagen, wenn etwas frei wird, und als in der Nähe ein Haus für frühere Obdachlose gebaut wurde, wollten Eilige gleich wissen, ob sie dort Eigentumswohnungen kaufen könnten. An der Ecke zur Oelkersallee hat man ein schickes Eckhaus mit Glasverkleidung hochgezogen, die Lage ist verkehrsgünstig und der Feinstaub angesichts des Hamburger Wohnungsmarktes leichter zu schlucken. Ist die Stresemannstraße als nächstes dran bei der Gentrifizierung? Schwierig zu sagen.

Die Strese hat einmal Karl-Marx-Straße geheißen, und der Name würde ihr hier hinten auch heute gut zu Gesicht stehen, mit ihrem Nebeneinander von Umsonstladen, in dessen Schaufenster die Saatgut-für-alle-Pflanzungen stehen, und der Musical-Geldmaschine Neue Flora schräg gegenüber. Mit dem Escape-Room in einem gesichtslosen Neubau, wo man gegen Geld in eine aufregendere Wirklichkeit abtaucht oder, ein paar Häuser weiter und mit altmodischerer Technik, „Vielfalt“, ein Geschäft für Unterhaltungsautomaten, in dessen Schaufenster kopflose Schaufensterpuppen stehen, die T-Shirts mit Wolfsaufdruck tragen.

Anja Mattuschek hat fünf Jahre an der Strese gewohnt. Es ist die Mischung von Leuten, die sie dort mochte. Sie waren „fertiger“, und das meint sie positiv, als die properen Familien in Eimsbüttel, wo Mattuschek jetzt lebt. Es gab das Ausgehvolk, das abends in die Klubs unter der Sternbrücke strömte, und direkt daneben alteingesessene HamburgerInnen, Hausfrauen, Müllwerker, Rentner.

Aber aus dem Haus, in dem sie lebte, sind die alten Mieter inzwischen fast alle ausgezogen. Mattuschek selbst ist weggegangen, weil sie mehr Platz brauchten, und über die Gründe der anderen kann sie nur spekulieren. Die Mieten in der Stresemannstraße ziehen an, wer neu kommt, kann von den Mieten von vor zehn Jahren nur noch träumen. Es ist sonderbar und erschreckend: Egal, mit wem man spricht, Viele scheinen in Furcht vor ihren Vermietern zu leben.

Und etwas anderes verbindet sie: Vom Diesel-Verbot versprechen sie sich nichts Großes. Mal gucken, so ist der Tenor. Bis dahin wird Holger Sülberg weiter „vom Rand ins Dorf“ gehen, wenn er von der Strese die hundert Meter zu den Läden des Schulterblatts läuft. Er wird von seinem Balkon aus auf die kaputte Geschwindigkeitsanzeige an der Straße sehen, die die Stadt seit einem Jahr nicht repariert. Die Radarfalle ein paar Meter weiter hält sie gut in Schuss. Nebenan, in der WG, wird der Musiker weiter seine Stücke aufnehmen, obwohl ein Hauch Straßenlärm mit aufs Band kommt. Und sie werden das Transparent wieder aufhängen.

* Name geändert

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