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Eine Tradition löst sich auf

Siemens und Siemensstadt – das war über viele Jahrzehnte eine feste Einheit aus Arbeit und Leben. Heute künden vor allem die Zeitzeugen aus Stein von der reichen Geschichte des Spandauer Ortsteils. Die echten „Siemensianer“ sind so gut wie ausgestorben

Wirtin Jasmin Röschel sieht manchmal Stadtführer vorbeilaufen. Wenigstens die interessierten sich noch für die Geschichte, sagt sie

Von Daniel Stoecker

Schon die U-Bahnstation empfängt mit Industriesymbolik. Auf dem Bahnhof Rohrdamm auf der Linie 7, wenige Stationen vor der Endhaltestelle Rathaus Spandau, zieren gemalte Rohre, Zahnräder und Gitter die Wände, metallisches Grau auf rostrotem Grund.

Der Ausgang führt zu dem kleinen Pförtnerhaus des Dynamowerks im Herzen des Spandauer Ortsteils Siemensstadt. Im November 2017 wurde bekannt, dass die Siemens-Konzernleitung plant, die Fertigung in dem Werk einzustellen, nach über hundert Jahren. Seitdem stehen hin und wieder MitarbeiterInnen vor dem Ausgang und sammeln Unterschriften. Eine Online-Petition läuft noch bis Ostern. „Das Siemens-Dynamowerk gehört zu Berlin wie Brandenburger Tor, Kreuzberg und Currywurst“, heißt es trotzig auf der Seite.

Gegenüber dem Werk befindet sich das Stadtteilbüro Siemensstadt. Hier kennt man die Ängste der Siemensstädter – und sieht auch, dass die einstige Verbundenheit des Unternehmens mit seinem Traditions­standort seit Jahren schwindet. Von Olaf Löschkes Schreibtisch sind es nur 20 Meter Luftlinie bis zum Werkseingang. Manchmal hört er beim Arbeiten im Hintergrund die Trommeln der Gewerkschaftsdemos, auch seine Unterschrift hat er privat schon gegeben. An der Wand hängt ein gelber Jutebeutel mit der Aufschrift „Für eine solidarische Nachbarschaft in Siemensstadt“.

Durch die Stadtteilarbeit bekommt Löschke viel mit. Der Trägerverein „Sozial-kulturelle Netzwerke casa“ organisiert nachbarschaftliche und kulturelle Veranstaltungen, dient aber auch als Anlaufstelle für BürgerInnen mit ihren Sorgen. Mieten würden erhöht, berichtet Löschke. Dazu komme der Arbeitsplatzabbau in den Werken. In einer Wohnbevölkerung, zu der längst viele Geringverdiener und Hartz-IV-Empfänger gehören, steige der soziale Druck dadurch enorm. Ihm komme es so vor, sagt Löschke, als habe Siemens sein Engagement im Stadtteil weitgehend zurückgezogen.

In ehemalige Siemens-Gebäude sind mittlerweile andere Unternehmen eingezogen, der Betriebsfußballplatz wurde an den Bezirk verkauft. Dabei wurde Siemensstadt einst wie ein großer Sozialplan aus Arbeit und Wohnen rund um die Firma erbaut. 1897 kaufte das Unternehmen über 200.000 Quadratmeter unbebautes Gelände zwischen Jungfernheide und Spree. Mit den Jahren wurde das Areal noch erweitert, es entstanden immer mehr Pro­duktionsstätten – wie eben 1906 das Dynamowerk.

Der rasante Aufschwung brachte Tausende Arbeitsplätze mit sich. Da die Werksarbeiter täglich aus Charlotten­burg oder Spandau anreisen mussten, ­begann Siemens daher früh mit dem weiteren Ausbau der notwendigen Infrastruktur: Straßen, Bahnlinien, Wohnhäuser. „Ein harmonisches Miteinander aus Leben, Arbeiten und Freizeit, auf das ihre Bewohner stolz und die übrigen Berliner ein wenig ­neidisch sein dürfen“, so steht es auf der Website des Vereins für die Geschichte Berlins.

Für Olaf Löschke klingt so viel Verbundenheit nach Nos­talgie. Ja, einige wenige „Siemensianer“ gebe es noch, die begeistert und mit Stolz über den Konzern reden. Doch das seien jene, die bereits in Rente sind, sagt Löschke, jene, die gut verdienten zu einer Zeit, in der es noch hieß: „Mein Betrieb, mein Ein und Alles“.

Heute wohnten nur noch wenige Siemens-ArbeiterInnen vor Ort. Eine Identifikation bestehe kaum noch, vermutet Löschke, weder ausgehend von den Angestellten noch seitens des Unternehmens. Auch die Informationstafeln, die an Gebäuden und Straßenecken die Ortsgeschichte erzählen, änderten daran nichts. „Da geht es darum zu sagen: Guckt mal, wir haben diese lange Geschichte und Tradition. Aber das ist Sozial­romantik.“

Dieser Eindruck bestätigt sich auf der Straße. Auf Siemens angesprochen, zucken die meisten Menschen mit den Schultern. Alte Siemensstädter gebe es kaum noch, „die sind entweder tot, im Altenheim oder wegrationalisiert“, sagt ein Mann in den Fünfzigern, der an einem Imbissstand steht. Die Fenster der anliegenden Geschäfte sind mit Malerfolie oder Papier beklebt, Bauzäune stehen an den Straßenrändern.

Dabei ist der Ort voll von der Geschichte einer blühenden Industrie und des Arbeitermilieus, das sie umgab. Die Straßen heißen Watt- und Ohmstraße, die Kneipen „Rohreck“ oder „Zur Quelle“. An einem Bahnhof der stillgelegten S-Bahnlinie steht „Siemensstadt“ in stark verschmutzten Lettern.

Ein weiteres Überbleibsel vergangener Zeiten ist das Restaurant „Stammhaus“. Inhaberin Jasmin Röschel führt es seit zwanzig Jahren, gemeinsam mit ihrer Frau Monika. Röschels Eltern hatten es Ende der 1970er Jahre übernommen. Sohn Stefan soll es eines Tages weiterführen. Das Stammhaus ist alt, über 100 Jahre. Schon Hitler habe draußen an der Ecke Reden geschwungen. Könnten Wände sprechen, man wollte gar nicht wissen, was sie zu erzählen hätten, sagt Röschel.

Auch sie bemerkt die schwindende Bedeutung von Siemens für den Ort, gerade bei den jungen Menschen. Einst habe die Lehre bei Siemens Sicherheit versprochen, heute kämen Leiharbeiter aus allen Bezirken. Die alteingesessenen Siemensstädter seien weggezogen – nach Falkensee oder Nauen –, und die wenigen verbliebenen schimpften über die Schließung der Werke. Manchmal sieht Röschel Stadtführer mit einer Gruppe vorbeilaufen. Wenigstens die würden sich noch für die Geschichte interessieren.

Anekdoten von damals kennt Röschel auch: In den 1950er Jahren gab es rund um die Fabriken Kneipen an jeder Ecke. „Freitags war Lohntütenball, das hat man so gesagt, da gab’s Geld“, erzählt die Wirtin, „da standen die Werksarbeiter in Dreierreihen am Tresen, und die Frauen haben den Männern am Tor das Geld abgeknöpft, damit sie nicht alles versaufen.“

Was die Zukunft bringt, weiß Röschel nicht. Ihr Restaurant sei nicht in Gefahr, die Kundschaft reiche längst über Siemensstadt hinaus. Die Leute kämen wegen der renovierten Kegelbahn und der Hausmannskost.

Doch Siemens’ langsamer Rückzug geht an dem Ort nicht spurlos vorbei. Viele Bereiche seien schmutzig und hässlich, beklagt Röschel. Sie habe sich selbst mit der Lokalgeschichte befasst, über Werner von Siemens und dessen Projekte gelesen. Das ganze soziale Umfeld, das damals um die Werke geschaffen wurde, gehe nun verloren. Tennisplätze und Kegelbahn seien schon dicht, die Kleingärten würden nun folgen. Manchmal denke sie, sagt Röschel, „wenn der alte Siemens das sehen würde, der dreht sich im Grab um“.

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