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Ist bei dir der Geldhahn zu, biste out im Nu

Verwehrte Teilhabe und gesellschaftlicher Druck: Differenziert und mit viel Humor befasst sich das Grips Theater in seinem neuen Stück„Anton macht’s klar“ nach Milena Baischs gleichnamigem Kinderbuch mit einem ernsten Thema – der Kinderarmut in Deutschland

Von Sylvia Prahl

„Das sind keine Turnschuhe. Das ist Ernst.“ Gerade hat Anton erfahren, dass der Kauf seiner heißersehnten Heelys – Turnschuhe mit Rädern an den Hacken – auf unbestimmt vertagt ist. Jetzt fürchtet der Neunjährige, von seinen Mitschülern ausgelacht zu werden. Großspurig hatte er behauptet, bereits Heelys zu besitzen, nur schnellere und bessere als die anderen. Aber die Waschmaschine ist irreparabel kaputt und der Leiharbeitsvertrag seines Vaters wird wegen eines geplatzten Großauftrags gekündigt. Selbst die 20 Euro für den anstehenden Schulausflug aufzubringen fällt Antons Eltern nun schwer.

Differenziert und mit viel Humor befasst sich das Grips Theater in dem Stück „Anton macht’s klar“ mit einem ernsten Thema: Kinderarmut in Deutschland. Es geht hier dabei nicht um das Nötigste – Anton hat alles, was er zum täglichen Leben braucht, verständnisvolle Eltern und gute Freunde inbegriffen. Es geht um verwehrte Teilhabe, darum, auf vieles verzichten zu müssen, was für andere selbstverständlich ist, es geht um gesellschaftlichen Druck. Und um das, was dieser Druck bei einem selbst auslöst. Als Anton nun von Kumpel Max zum Heelys-Wettrennen herausgefordert wird, ist guter Rat teuer. Der Versuch, als Kinderstuntman beim Film schnelles Geld zu machen, klappt nicht, also scheut Anton vor kriminellen „Lösungen“ nicht zurück – in seiner Not kopiert er Geld und jubelt es der kurzsichtigen Kioskbesitzerin Frau Saltzer unter.

Vor der Vorstellung gleiten einige Kids auf Heelys zu ihren frei gewählten Sitzen. Der eigene Wunsch nach Heelys hat meine achtjährige Begleiterin G. für das Thema sensibel gemacht. Sie hat einen Platz an der linken Seite der ebenerdigen, auf drei Seiten offenen Bühne gewählt. Direkt hinter den Musikern Bettina Koch und Thilo Brandt, die an Piano, Gitarre und E-Percussion die Vorstellung mit einem groovy Intro wie bei einer TV „Late Night Show“ eröffnen. Sofort wird mitgeklatscht. Die Schauspieler rollen auf Heelys durch die Gänge zwischen den Sitzreihen auf die Bühne.

Alle, bis auf Anton, dargestellt vom 28-jährigen Patrick Cieslik. Wie die anderen ebenfalls erwachsenen Darsteller seiner drei Schulfreunde, David Brizzi (Max), Amelie Köder (Xiaomeng) und Nina Reithmeier (Fanny), ist er ganz selbstverständlich ein Fünftklässler. Das liegt auch daran, dass Boris Pfeiffer für seine Bühnenfassung von Milena Baischs gleichnamigem Kinderbuch lebensechte Dialoge geschrieben hat. Die Kinder reden untereinander sehr vertraut, zicken sich an, sind schon im nächsten Moment wieder ganz einer Meinung. Gegenüber Erwachsenen verhalten sie sich renitent-respektvoll, und auch Antons Enttäuschung und egoistisches Gejammere klingen real.

Im vollbesetzten Saal verfolgen Zu­schauer*innen aller Altersstufen – viele Kinder sind mit ihren Großeltern oder Eltern gekommen – gebannt die sich spannend und ohne Umschweife entwickelnde Geschichte.

Fast alle Szenen enden mit einem kommentierenden Song. Mal sprechsingen die Kids: „Aufgepasst, ihr Penner / Heelys sind der Renner […] / Wir – sind – mega in / Vom Scheitel bis zur Sohle / Vorausgesetzt, vorausgesetzt / Papa hat die Kohle / Ist bei dir der Geldhahn zu / Biste mega out im Nu.“ Mit seinen Liedtexten trifft der 80-jährige Grips-Gründer Volker Ludwig, der der Welt bereits Klassiker wie „Wir werden immer größer“ schenkte und im letzten Jahr die Leitung seines Theaters abgegeben hat, nach wie vor den richtigen Ton. Die Komponisten Kaspar Föhres und Caspar Hachfeld haben ihnen die passende Form gegeben. Da rappt Anton in Gangster-Manier: „Ich brauch hundert Euro / Für zwei hippe Schuhe /… Ihr wisst nicht, was mir droht / Es geht um meine Ehre / Um Leben und Tod!“ – und alle Anwesenden verstehen, dass Anton alle Mittel recht sind, um an Geld zu kommen.

Von Feelgood bis bedrohlich

In den Umbaupausen nehmen Musikeinlagen die Befindlichkeiten der Figuren auf. Nach anfänglichen Feelgood-Klängen wird der Ton immer rauer und bedrohlicher, je mehr sich Antons Lage zuspitzt. Mit einfachsten Mitteln wird auf der abgedunkelten Bühne blitzschnell – einen verhüllenden Vorhang gibt es nicht – aus Antons Küche der Eckladen von Frau Saltzer (Katja Hiller, die in ihrer zweiten Rolle als Antons Mutter das liebenswert Verspulte der Kioskbesitzerin mühelos gegen resolutes mütterliches Auftreten eintauscht), aus dem Schulhof der Spielplatz oder der Eingang des Hauses, in dem Ralle (mit erfrischend marxistischer Schlagseite auch David Brizzi) wohnt. Er ist mit Antons Eltern befreundet, verdient mit Reparaturen zwar wenig, weiß aber seine selbstbestimmte Arbeit zu schätzen. Er hat Antons Vater bescheinigt, dass die Waschmaschine „ihren letzten Schleudergang getan“ habe.

In der 20-minütigen Pause nach gut einer Stunde hält G. mir einen Heelys-Fachvortrag, fragt aber auch, was es mit Leiharbeit auf sich hat und was „selbstbestimmte Arbeit“ bedeutet. In der zweiten Hälfte rutscht G. aufgeregt hin und her, hofft, dass Anton von seiner dummen Idee ablässt. Sein väterlicher Freund Ralle entdeckt, dass Anton im Begriff ist, großen Mist zu bauen, wäscht ihm den Kopf – aber so, dass der nicht sein Gesicht verliert. Er singt: „Lass die anderen ruhig tratschen / Du bis mehr als ein paar Latschen.“

Geradezu rührselig wird es, wenn Fanny in einer – herrlich schief gesungenen – Ballade bescheinigt: „Anton, du bist okay“. Und das, obwohl er zu guter Letzt erkennt, dass ihm Heelys gar nicht mehr wichtig sind. Nach frenetischem Applaus und einer Zugabe rollen die Heely-beräderten Kinder über den Hansaplatz davon. G., befragt, ob sie denn nun noch Heelys braucht, strahlt nur ein gütiges „Ja!“.

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