heute in bremen: „Gerechtigkeit? Nun ja.“
Mehmet Gürcan Daimagüler, 50, ist seit 2012 ein Anwalt der Nebenklage im NSU-Prozess.
Interview Teresa Wolny
taz: Herr Daimagüler, was schießt Ihnen angesichts der jüngsten Anschläge auf türkische Einrichtungen durch den Kopf?
Mehmet Gürcan Daimagüler: Wieso ist der Gemüseladen eines Berliners, der vielleicht deutscher Staatsbürger ist, der vielleicht in Deutschland geboren ist, der vielleicht deutsche Kinder hat, eine „türkische Einrichtung“? Bloß weil seine Eltern oder Großeltern aus der Türkei stammen? Wird so nicht die Täter-„Logik“ übernommen und zugleich ganz en passent das Opfer sprachlich ausgebürgert?
Was halten Sie von der Berichterstattung über den NSU-Prozess?
Das Verfahren läuft jetzt seit fast fünf Jahren und es gab keinen Tag, an dem die Pressetribüne leer gewesen wäre. Das alleine ist schon bemerkenswert gut. Und ganz überwiegend wird sachlich und kenntnisreich berichtet.
Sie werfen den Behörden institutionellen Rassismus vor. Brauchte es den Prozess, um darauf aufmerksam zu machen?
Die Frage ist doch: Reicht noch nicht einmal das NSU-Wissen, die Existenz eines institutionellen Rassismus anzuerkennen? Die Bundesregierung bestreitet genau dies auf internationaler Ebene. Sie behauptet, Fälle von Rassismus beispielsweise bei der Polizei seien immer leider, leider bedauerliche Einzelfälle. „Racial Profiling“ gibt es demnach vielleicht in anderen Ländern, aber nicht bei uns. Das finde ich bemerkenswert dreist.
Wie kann Ihren Mandanten jetzt am besten Gerechtigkeit und eine Chance zur Aufarbeitung gegeben werden?
Meine Mandantinnen und Mandanten wollen wissen, warum der Bruder, warum der Vater zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Sie wollen wissen, warum der Staat sie nicht beschützt hat und warum der Staat den Toten wie den Lebenden nicht erlaubte, Opfer zu sein und sie stattdessen als Kriminelle zur jahrelangen sozialen Isolation verdammte. Die Bundeskanzlerin versprach Aufklärung. Zugleich liefen bei den Geheimdiensten die Schreddermaschinen heiß. Gerechtigkeit? Nun ja.
Ist die Weise, wie der Prozess voranschreitet, Sisyphusarbeit?
Ja. Das muss auch so sein. Ein kurzer Prozess ist ein schlechter Prozess. Ich möchte nicht in einem Land leben, wo Angeklagte zackzack verurteilt und ins Gefängnis geworfen werden.
Vortrag und Diskussion „Der NSU-Komplex - nur die Spitze des Eisbergs?“: 18.30 Uhr, Islamische Föderation Bremen, Sonneberger Str. 18
Ihr Buchtitel fängt an mit: „Empörung reicht nicht!“ Was müsste demnach folgen?
Wir müssen folgen: Unsere Demokratie kann nicht besser sein als wir Menschen. Wird sie von den Vielen nicht gestützt, dann wird sie von den Wenigen gestürzt.
Wie werden Sie in 30, 40 Jahren auf den Prozess zurückblicken?
In 30, 40 Jahren bin ich tot. Gerne auch früher.
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