Wer meistert jetzt Neukölln?

Der Posten im Rathaus wird überraschend frei – Franziska Giffey (SPD) wird qua ostdeutscher Herkunft Familienministerin. Na dann: Hier unsere Vorschläge für einen Neuanfang

Hier eröffnet sie noch frischsanierte Schultoiletten, künftig soll Franziska Giffey (SPD) das Bundesfamilienministerium leiten Foto: Maurizio Gambarini/dpa

Wer Franziska Giffey am Donnerstag im Radio hörte, lauschte einer glückbeseelten Stimme, ganz unabhängig vom Inhalt des Gesprächs. Seit Mittwoch schon verdichten sich die Hinweise, dass die Neuköllner Bürgermeisterin Bundesministerin im Kabinett Merkel IV wird. Inzwischen ist klar: Die SPD-Frau übernimmt das Bundesfamilienministerium. Vor allem der konservative Seeheimer Kreis und die Ostfrauen in der SPD hatten sich massiv für die in Frankfurt (Oder) Geborene eingesetzt. Am heutigen Freitagmorgen sollen alle SPD-Minister bekannt gegeben werden.

Der Karrieresprung kommt überraschend. Giffey ist erst 39 Jahre jung; noch nicht mal drei Jahre lang leitet die studierte Verwaltungswirtin als Bürgermeisterin die Geschicke Neuköllns. Sie war dort Heinz Buschkowsky nachgefolgt, einem rumpeligen, konservativen SPD-Mann, der sich mit seinen populistischen Tönen („Mulitikulti ist tot“) in Talkshows und der Bild-Zeitung zu Hause fühlte.

Giffey pflegt einen gänzlich anderen Regierungsstil: Eher ruhig und sachlich geht sie die vielen Debatten in ihrem Bezirk an und hat allein damit zur Entspannung in dem von steter Einwanderung geprägten Neukölln gesorgt.

Inwieweit es sich bei Giffey noch um eine Ostdeutsche handelt – dank dieses Tickets hat sie auch die andere Berliner SPD-Kandidatin für ein Ministeramt, Eva Högl, ausgestochen –, wird sich zeigen müssen. Letztlich werten Beobachter ihre Ernennung auch als Zeichen für die stetig dünner werdende Personaldecke der deutschen Sozialdemokratie. Bert Schulz

Inland

Mit Talkshow-Gen: Raed Saleh

Neukölln ist der Bezirk der Gegensätze: spanische Hipster im Norden, ganze Großfamilien aus dem Nahen Osten in der Mitte, deutsche Kleinbürger im Süden. Und ab und an treffen alle aufeinander. SPD-KandidatInnen ohne Migrationshintergrund scheiden da aus: Nach Buschkowsky (irgendwie polnisch) und Giffey (immerhin ostdeutsch) wäre Raed Saleh eine naheliegende Lösung. Der kommt zwar aus Westen (Spandau), aber auch aus Palästina (Geburtsland). Und er war mit Buschkowsky bei dessen legendärer Rotterdam-Reise dabei. Saleh hat ein Talkshow-Gen und ein konservatives Buch über Einwanderung geschrieben. Er ist für strenge Muslime akzeptabel (kein Alk, keine Kippen), setzt sich aber gleichzeitig für die Liberalisierung von Cannabis ein. Als SPD-Frak­tions­chef im Abgeordnetenhaus hat er wegen seines forschen Führungsstils viel Ärger mit den KollegInnen. Bezirksfürst könnte da eine willkommene Ablenkung sein. Bert Schulz

Mit Orts-kenntnis: Mirjam Blumenthal

Wenn jemand das Karussell der großen Namen durchbrechen kann, dann Mirjam Blumenthal. Seit Kindesbeinen bei den Falken, über 25 Jahre in der Gewerkschaft – mehr SPD geht kaum. Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende im Neuköllner Bezirksparlament kennt als Ur-Neuköllnerin den Bezirk bestens. Wenn sie bisher in der Presse war, dann oft, weil sie Erfahrungen mit rechten Anschlägen machen musste. 2017 brannte ihr Auto, mehrfach das Haus der Falken. Ihr ausdauernder Kampf ­gegen Rechts brachte ihr Linke-Zecke-Sprüche bis Morddrohungen ein. Zwar stünde Blumenthal, Mitte 40, nicht gerade für die „Verjüngung der SPD“, als Vorsitzende des Jugendhilfeausschusses ist sie aber nah dran an den Jüngsten des Bezirks. Mittlerweile findet die Falken-Jugend­arbeit hinterm Sicherheitszaun statt. Trotzdem will sie die Unicef-Auszeichnung als „kinderfreundliche Kommune“. So ein Spagat ist einer Bürgermeisterin würdig. Daniel Stoecker

Mit Dialekt: Cem Özdemir

Cem Özdemir lebt schon ganz nah an Neukölln dran – in Kreuzberg: erste Qualifikation. Als konservativer Grüner wäre er für die Neuköllner SPD ein Gewinn – ihr nehmen die Grünen seit Jahren die Wahlkreise vom Norden des Bezirks aus in Richtung Süden ab. Mit Özdemir könnte sie Wählerstimmen zurückgewinnen. Zudem braucht auch der grüne Ex-Bundesvorsitzende neue Aufgaben – und in Neukölln gibt es genug davon. Beispiel Wirtschaft: Neukölln könnte gut ein bisschen baden-württembergischen Schwung vertragen. Beispiel Integration: Der Hipster-Multikulti-Norden des Bezirks und der spießbürgerliche Süden stehen seit Jahren auf Kriegsfuß miteinander – wie die zwei Flügel der Grünen, die Özdemir bisher zusammenhalten musste. Und nicht zu vergessen: der Kampf gegen rechts. Dass es Özdemir da nicht an Mut und Deutlichkeit fehlt, hat er erst kürzlich im Bundestag bewiesen. Also: Raus aus den Grünen, rein ins Rathaus Neukölln! Alke Wierth