Endlich 18: Fahrlehrer über Volljährigkeit: „Generation Keine Ahnung“
Süleyman Tuncel ist Fahrlehrer und Experte für 18-Jährige. Er sagt, es gab eine Jugend, in die hatte er mehr Vertrauen – nicht nur an der Ampel.
taz am wochenende: Herr Tuncel, wie erwachsen sind die 18-Jährigen, die zu Ihnen in die Fahrschule kommen?
Süleyman Tuncel: Für mich ist jeder, der zu mir in die Fahrschule kommt, erwachsen, auch wenn er erst 17 ist. Ich möchte den Leuten bei der Vertragsunterzeichnung das Gefühl geben, dass sie bereit sind. Nach dem Motto: Ich werde bald 18, ich bin selbstständig, ich bin mobil. Das ist Freiheit. Der Führerschein ist ein Beitrag dazu.
Sie waren auch mal 18. Erkennen Sie sich in Ihren Fahrschülern wieder?
Manchmal. Bei Trotzreaktionen. Wie dickköpfig die sind! In diesem Alter sind doch alle so.
Alle?
Na ja. Ich habe auch einen Schüler, der kommt nur mit Mutter und geht mit Mutter.
Aber sie fährt nicht mit, oder?
Gott sei Dank nicht.
Passiert so etwas öfter?
Ab und zu. Ich sage den Eltern dann: Wenn ihr kommen wollt, dann bitte kurz vor den Sonderfahrten. Dann können wir die Prüfung simulieren. Bei der Prüfung sitzt auch ein Fremder hinten. Da kann man also erst mal mit einem Bekannten anfangen. Es ist für die Schüler auch gut, wenn sie sich beobachtet fühlen, damit sie Gegenstrategien entwickeln, wie sie das ignorieren können.
Wir müssen mal eine Theorie ausprobieren. Man sagt ja, dass die Gesellschaft immer weiter auseinanderdriftet. Ist da der Führerschein die letzte Sache, die alle verbindet? Klassen, Geschlechter, Ethnien, kulturelle Hintergründe?
Kann sein. Bei uns sind alle unterschiedlich. Zu uns kommen viele Schüler mit türkischem Migrationshintergrund, aber auch – wie sagt man da? – normale Deutsche. Gerade haben wir eine syrische Clique da, die Jungs lernen einen Beruf und bekommen den Führerschein dazu. Du merkst, die reden anders, die ticken anders, weil sie die Flucht hinter sich haben.
Der Mensch Mit 17 kam der heute 55-Jährige aus der Türkei nach Berlin und studierte Deutsche Literatur. Anschließend machte er Theater und war in Jugendkulturprojekten tätig, er betrieb auch mal ein Restaurant.
Der Fahrlehrer Seit fast zehn Jahren arbeitet Tuncel in einer Berliner Fahrschule. Selbst hat er kein Auto, er fährt privat Motorrad und Fahrrad.
Manchmal kommt ein Schüler direkt vom Bau in den Unterricht, mit Arbeitsklamotten. Sitzt da und schläft ein. Dann sage ich, lassen wir ihn in Ruhe, der hat gearbeitet. Na ja, wir haben die gemeinsame Straße, und da wollen wir alle spielen, also müssen wir alle die Spielregeln lernen. Da kommt keiner drum herum. Es ist gut, dass wir hier in der Theorie gemeinsam sitzen und miteinander reden. Da können wir sehen, wie der andere tickt.
Wie ticken denn die 17- oder 18-Jährigen hier bei Ihnen?
In unserer Gesellschaft geht es nicht ohne Führerschein. Muss sein. Es gibt Ausnahmen. Aber in letzter Zeit wollen die Eltern immer mehr, dass ihre Kinder den Schein machen. Die sagen zu ihnen, wenn sie 17 sind: Komm jetzt, Fahrschule, schreib dich ein, Geld haben wir auch. Da merkst du, dass die Schüler selbst nicht immer motiviert sind.
Sie müssen angeschubst werden.
Es gibt auch andere: Jugendliche, die selber gespart haben, die jobben, die von Oma und Opa etwas Geld dazubekommen. Bei denen merkt man, dass sie eine gewisse Reife erreicht haben. Sie zeigen auch, wie engagiert sie sind. Die wollen das selber.
Zwei Typen also. Fifty-fifty?
Leider nicht. Es sind so 30 Prozent, die genau wissen, was sie wollen. Der Rest konsumiert.
Ist das typisch für diese Generation?
Wenn Sie mich fragen, ja. Diese Generation wird von allen Ecken und Enden gefüttert. Und dann konsumiert man nur noch.
Die passive Generation?
Passiv, ja. Chillen, so ein Keine-Ahnung-Ding. Wenn ich jemanden frage: Du hast in deinem Alltag doch sicher Dinge erfahren, die dir hier in der Fahrschule nützen, oder?, kommt nur: Keine Ahnung.
Was für Dinge könnten das sein?
Wenn wir in der Fahrstunde an einen Fußgängerüberweg kommen und da steht einer, aber der bewegt sich nicht. Dann sag ich: Frag dich mal, warum der da steht. Warum guckt der uns an? Was will der von uns? Der steht da als Mensch und wir fahren als Maschine. Du hast bestimmt eine Ahnung, du willst nur nicht reden oder dir die Mühe machen. Aber die Schüler denken eher nach dem Motto, ich bezahle doch dich als Fahrlehrer dafür, dass du es mir erzählst.
Das macht einen ja direkt skeptisch.
Mich auch. Ich weiß gar nicht, wie sich diese Generation in leitenden Positionen machen soll.
Der Kulturpessimist in uns fragt: Was soll aus diesen Leuten werden?
Die können gut geleitet werden. Die sind formbar. Von irgendwelchen Systemen.
Und Sie dachten sich mit 18: Jetzt werde ich Fahrlehrer?
Ich habe Deutsche Literatur studiert. Und nie was damit beruflich anfangen können. Dann Off-Theater, Kindertheater, selber gespielt, selbst Bühnen aufgebaut, als Betreuer auf einem Abenteuerspielplatz gearbeitet, Jugendprojekte, ein Restaurant. Dann hat mich ein Kumpel, der Besitzer hier, gefragt: Sülo, willst du nicht mithelfen? Du kannst Geld verdienen.
Ich hab ihm gesagt: Mit Autos habe ich nichts zu tun, das sind für mich Nutzfahrzeuge. A nach B. Was soll ich denn da beibringen? Ich dachte, dafür muss ich ein Autofan sein, Ahnung haben vom Motor, PS, Zündzeiten. Aber mittlerweile, nach bald zehn Jahren, habe ich das ein bisschen kennengelernt. Da sage ich mir: Du bist immer mit Jugendlichen unterwegs, kriegst viel mit, hast mit ihnen ein gemeinsames Thema. Das macht Spaß.
Sie kamen nach Deutschland, kurz bevor Sie 18 wurden. Fühlten Sie sich da erwachsen?
Für mich war alles Neuland. Echt. Ich bin in einem kleinen Dorf im Taurusgebirge aufgewachsen, 120 Kilometer nördlich von Antalya. Drei Monate vor meinem 18. Geburtstag bin ich nach Berlin gekommen. Ich kannte vieles nicht: Großstadt. Verkehr. Gott sei Dank haben sie mich gleich zum Sprachkurs eingetragen. Als ich ein bisschen Deutsch konnte, hab ich den Führerschein gemacht.
Ist man in der Türkei auch mit 18 volljährig?
In der Türkei ist man erwachsen, wenn man den Militärdienst geleistet hat.
Haben Sie?
Nein. Gott sei Dank durfte ich mich drücken.
Wann haben Sie sich das erste Mal erwachsen gefühlt?
Mit 16. Ich bin bei meinen Großeltern aufgewachsen. Meine Eltern haben in Deutschland bei einem Autozulieferer Zündungen montiert. Alle zwei Jahre haben sie uns für zwei Monate besucht. Wir waren klein, die waren fremd. Wer sind die? Was machen die bei uns?
Anne und Baba, Mama und Papa?
Ja, Anne und Baba sind da, sagten meine Großeltern. Ich hatte keinen Bezug zu denen, spürte auch keine Zuneigung. Aber dann gab es Schokoladengeschenke, es kam die Phase des Sichmögens, des Sichliebens. Nach vier, fünf Wochen, fingen sie an, ihre Pakete zu schnüren. Ich spürte: Das ist die Zeit des Abschieds. Und dann waren sie plötzlich weg. Das war schwierig. Also sagte ich mir irgendwann: Die kommen und gehen, jetzt hast du nur deine Brüder und deine Großeltern.
Das war das Erwachsenwerden? Die Erkenntnis, dass man allein ist?
Du bist allein. Jetzt mach was draus.
Wie Ihre Fahrschüler. Los jetzt. Reden Sie mit denen über deren Zukunft, über das, was werden soll?
Am Anfang gar nicht. Die müssen erst mal alle neuen Eindrücke runterschlucken. Dann, nach ein paar Stunden, kommen wir ins Gespräch. Ich frage, was sie beruflich machen wollen. Das ist ein neutrales Thema. Was möchtest du machen? Was gefällt dir? Wenn man die Person ein bisschen in ihrem Wesen unterstützt, sie aufbauen kann, dann öffnet sie sich. Sonst habe ich keinen Zugang. Diese Tür muss man finden.
Was bewegt die denn? Beziehungen? Oder Politik?
Politik selten. Das vermisse ich, dass sie sagen: Hier gibt’s eine Veranstaltung oder eine Lesung. Ich will nicht sagen, alle sind apolitisch. Aber der Anteil ist sehr groß. Die interessiert eher: Wo treffe ich die Kumpels? Und da läuft die ganze Zeit die Kontaktebene: mit Facebook und WhatsApp, die sind jeder für sich alleine, aber online mit allen verbunden.
Können die ohne?
Ohne Handy nicht, auf keinen Fall.
In der Fahrstunde muss das Handy weg.
Ja, das muss weg. Da achte ich schon drauf. Es gab mal einen Schüler, der sein Handy so unauffällig zwischen die Beine geschoben hat und an der Ampel guckt der so nach unten …
Wirklich?
Sag ich: Was guckst du denn so? Sagt der, mein Handy ist hier. Er wollte mir das nicht direkt zeigen. Diese Leute werden, wenn sie den Führerschein haben, ständig das Smartphone im Auto benutzen. Das sieht man ja auch: An der Ampel, bei Rot, gucken alle nach unten.
Welche Berufe wollen Ihre Fahrschüler machen?
Schnell Geld wollen alle verdienen. Neulich hatte ich einen Fahrschüler, der sagt: Hier, die Ecke, da mach ich eine Shishabar, ich kenn mich da aus. Sag ich: Das sieht nur von außen so aus. Du kennst die Hintergründe nicht, wie das Geschäft abläuft, du musst das planen und kalkulieren können. Optisch sieht das vielleicht gut aus. Aber weißt du, was an einem Tag so reinkommt und rausgeht? Was musst du deinen Mitarbeitern überhaupt zahlen?
Was unterscheidet Jungs und Mädchen?
Die Mädels wissen besser Bescheid, was sie machen möchten. Sie sind zielstrebiger. Bei den Jungs hängt das alles zwischen Handykontakt, Shishabar, Eltern und irgendwo Geld verdienen. Wo ist das teuerste Auto, das wir anmieten können? Man kann es auch so sagen: Die genießen das.
Welche Autos wollen die fahren?
Immer die teuersten, die dicksten. Ist eine Prestigesache. Da treffen sich Jungs und sagen: Wir sind zu viert, er hat einen Führerschein, er mietet einen Wagen an, dann chillen wir für fünf Stunden, er fährt und wir geben an. Und alle fühlen sich wohl.
Alle legen zusammen und mieten ein Auto?
Ja, Ku’damm, warum nicht? Die gehen auch in bestimmte Cafés, die wollen sich zeigen. Was nützt es denen, eine Straße entlangzufahren und niemand beobachtet sie? Also Ku’damm.
Mit welchen Autos fahren die Fahrschüler hier?
Die Schüler müssen gerne kommen. Das ist ja auch Werbung.
Also Porsche.
Es gibt Fahrschulen, die Porsche haben. Die Fahrstunden sind dann aber teurer als bei uns. Wir haben Golf und Tiguan.
Aber die Schüler lästern nicht über Ihre Autos?
Nee, noch nicht. Gott sei Dank nicht. Aber über alles, was unter einem Golf käme, würden die schon meckern. Golf ist Standard, da meckert keiner. Da kannst du nicht viel falsch machen. Aber alle fragen, ob das ein Golf 6 oder 7 ist. Das ist genau wie bei iPhones.
Wir müssen noch mal kulturpessimistisch werden. Ist es nicht als Jugendlicher heute unglaublich schwer, seinen Weg zu finden? Es ist ja schon schwer genug, sich bei Starbucks zu entscheiden. Das Angebot ist so groß. Es gibt 700 Studiengänge in Deutschland. Man kann seinen Master in Literatur des ausgehenden 17. Jahrhunderts machen. Alle Möglichkeiten stürzen auf einen ein – wie geht man als 17-Jähriger damit um?
Also die tun mir in dieser Situation wirklich leid. Wir haben so viele Sachen, so viel Ablenkung. Ich habe mich früher gefreut, wenn am Freitag ein schöner Film gelaufen ist. Jetzt kannst du jeden Abend jeden Film gucken. Da kannst du hängen bleiben. Ich muss immer genau überlegen und meine Sachen reduzieren, um überhaupt Freude zu empfinden. Sonst habe ich zu viel und weiß gar nicht, was mir Freude macht. Man muss Entscheidungen treffen, das ist schwierig für die jungen Leute, so erlebe ich das. Ich höre oft von ihnen: Ich weiß noch nicht, keine Ahnung.
Was raten Sie denen?
Ich sage immer, egal, was du machst, ob Handwerk, Müllabfuhr, Architektur oder Medizin, du musst dich im Kern nur fragen: Was möchtest du? Was macht dir Freude? Wenn du das mit Geld oder einem Beruf verknüpfen kannst, dann kannst du glücklich leben.
Wenn wir den Straßenverkehr als Parallele zum Leben nehmen: Ich fahre im Auto, ich bin total nervös, ich kann nicht mehr geradeaus denken, ich sehe nicht mehr Rot oder Grün. Was würde der Fahrlehrer einem im Straßenverkehr völlig überforderten Menschen raten?
Dann musst du aussteigen. Fahr aus der Spur raus, keiner wird dich dort in Ruhe lassen. Alle fahren an dir vorbei, linksherum, rechtsherum und hupen und gucken. Das wird dich belasten. Fahr rechts ran, such dir eine sonnige Ecke, setzt dich in ein Café. Komm runter, beruhige dich, dann kannst du wieder loslegen.
Ein Konzept fürs Leben?
Aussteigen.
Gibt es so etwas wie eine Transformation, die Ihre Schüler in der Fahrschule durchmachen?
Manchmal weiß ich nicht, was für ein Beruf das ist, den ich mache. Manchmal kannst du Menschen nackt sehen. Wenn Leute in Stresssituationen kommen, und du merkst, die sind angespannt, dann fährst du zur Seite und sagst: Ja, heute gelingt bei dir nichts. Was ist bei dir los? Hast du nicht gut geschlafen? Geht’s dir nicht gut? Und dann fließen manchmal die Tränen. Der Mensch kommt ja nicht alleine, sondern als Paket. Die komplette Geschichte.
Was lernt man in der Fahrschule, abgesehen vom Autofahren?
Entscheidungskompetenz. Eine Sache zu sehen und die richtige Entscheidung zu treffen. Das ist das A und O: Informationen erfassen und dann schnell entscheiden. Deswegen ist es für jemanden, der im Alltag noch nie entschieden hat, schwierig, diese Prozesse schnell ablaufen zu lassen.
Klassische Entscheidungssituation: Die Ampel wird gelb. Fahren oder bremsen?
Da sage ich zu ihm: Du, es gibt theoretisch ein paar Sachen, die du machen sollst, wenn du Grün hattest und die Ampel gelb wird, aber entscheiden musst du selbst. Das versuche ich meinen Fahrschülern mitzugeben: Du bist am Zug, keiner hilft dir, du musst entscheiden.
Aber was ist der Tipp bei gelber Ampel? Gas geben?
Gelb fordert von dir zu halten. Wenn du das nicht kannst, ohne jemanden zu gefährden, kannst du durch.
Bleifuß?
Nein. Dann kriegen sie Probleme, gerade als Fahranfänger.
Warum?
Na, weil es dann schnell mal zur Probezeitverlängerung kommt. Es gibt da so schlaue Säulen, die blitzen nicht nur, wenn man bei Rot fährt, die messen auch die Geschwindigkeit mit. Will einer über Gelb fahren, muss er ein bisschen Gas geben – und ist schon bei 65, weil er vorher sowieso schon 55 fuhr. Das ist die Lektion, die man hier lernt. Beobachten, wie die Situation ist, und allein entscheiden. Die Situation ändert sich ständig.
Geht es darum beim Erwachsensein?
Klar. Die, die als 17- oder 18-Jährige hierher kommen, um den Führerschein zu machen, sind dabei, erwachsen zu werden. Und dazu gehört es, alleine Entscheidungen zu treffen. Große Themen: Was sie machen wollen. Ob sie dickes Geld verdienen wollen. Oder etwas anderes: Wenn jemand neben mir Lügen erzählt, soll ich dann Stellung nehmen oder nicht? Ich kann wählen: Ich lass ihn erzählen, die anderen hören zu – oder ich sage meine Meinung dazu. Ich als Fahrlehrer versuche den Eindruck zu vermitteln, dass der Führerschein nebenbei gemacht wird, dass es eigentlich darum geht, was zu machen, was zu tun. Damit die Schüler ein bisschen Leichtigkeit haben oder Freude.
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