piwik no script img

„Zu lange wurde weggeschaut“

1,5 Millionen Euro will Thüringen an die NSU-Opfer zahlen. Ministerpräsident Ramelow spricht von Mitverantwortung seines Landes für die Verbrechen

Man wolle sich nicht freikaufen, sondern seiner Verantwortung stellen, so Ramelow

Von Konrad Litschko

Eine Mitverantwortung seines Landes für die NSU-Terrorserie sei unstrittig, sagt Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke). „Aus Thüringen ist das Netzwerk aufgebrochen zu seinen späteren Mordtaten. Und der Thüringer Verfassungsschutz war nicht unbeteiligt, dass die Täter viel zu lange ihr Werk treiben konnten.“ Deshalb sei es folgerichtig, die Opfer des NSU zu entschädigen.

Am Mittwochnachmittag hatte die rot-rot-grüne Regierung Thüringens beschlossen, einen Entschädigungsfonds mit 1,5 Millionen Euro für die Opfer der rechtsextremistischen Terrorzelle einzurichten. Man wolle sich nicht freikaufen, sagt Ramelow der taz. „Aber wir wollen uns unserem Teil der Verantwortung stellen. Zu lange wurde weggeschaut. Zu lange mussten die Opfer unter falschen Verdächtigungen leiden.“

Bereits Ende September hatte der Landtag die Einrichtung eines Opferfonds für die NSU-Hinterbliebenen beschlossen – gegen die Stimmen von CDU und AfD. Die AfD hatte der Koalition vorgeworfen, das Gedenken an die Mordopfer ideologisch zu instrumentalisieren. Die CDU erklärte damals, man wolle Gerichten nicht vorgreifen, ob der Staat eine Mitschuld am NSU-Terror trage. Auch betreffe das Thema nicht nur Thüringen. Linke, SPD und Grüne nannten die Einwände „beschämend“.

Auch Ministerpräsident Ramelow begründet den jetzigen Beschluss mit einer „politischen Verantwortung“, die sein Land auch heute schon übernehmen könne und müsse.

Auch Grüne und SPD verweisen auf das „massive Versagen“ der Sicherheitsbehörden bei der NSU-Terrorserie. Eine Entschädigung der Opfer sei „eine logische Konsequenz“.

Die Linken-Abgeordnete Katharina König-Preuss betonte, die Entschädigung könne keine Wiedergutmachung sein. „Wir wollen damit aber ein Zeichen setzen, dass wir uns der Verantwortung bewusst sind.“ König-Preuss forderte, dass sich auch andere Länder an dem Fonds beteiligen. Viele Hinterbliebene waren nach dem Tod ihrer Angehörigen in finanzielle Schwierigkeiten geraten.

Im thüringischen Jena hatte sich das spätere NSU-Trio Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt radikalisiert und war dort 1998 untergetaucht. Erst 2011 flog die Gruppe auf – nach zehn Morden, drei Anschlägen und 15 Raubüberfällen. Polizei und Verfassungsschutz hatten weder den rechtsextremen Hintergrund der Terrorserie erkannt noch das Trio aufgespürt.

Gleichzeitig mit dem Opferfonds einigte sich die Thüringer Landesregierung auf 350.000 Euro für eine Mahnstätte zur Erinnerung an die NSU-Verbrechen. Wo diese eingerichtet wird, ist noch offen. Bei der Stätte gehe es darum, der Opfer zu gedenken, aber auch um die Mahnung, „dass Rassismus töten kann“, sagt Ramelow.

Mehrere Anwälte von NSU-Opferfamilien hatten den Thüringer Entschluss begrüßt. Das „Verantwortung übernehmende Verhalten setzt sich deutlich positiv ab vom Umgang anderer Bundesländer“, schrieben sie in einer Erklärung. Thüringen ziehe „spürbare Konsequenzen“ aus den Ergebnissen des NSU-Untersuchungsausschusses des Landes. In dessen Abschlussbericht wurden die Ermittlungen gegen das NSU-Trio als „ein einziges Versagen“ und „Fiasko“ bezeichnet. Einigen Beamten wurden Amtspflichtverletzungen attestiert.

Einige NSU-Opferfamilien hatten zuvor die Bundesrepublik auf Schadensersatz verklagt. Sie verlangten für die Pannen bei der NSU-Fahndung 50.000 Euro für jedes Familienmitglied. Die Verfahren ruhten zuletzt, nachdem Thüringen angekündigt hatte, die Betroffenen zu entschädigen.

Derzeit erheben die Opferfamilien im NSU-Prozess in München noch einmal die Stimme – im Rahmen der Nebenklageplädoyers. Diese Woche beklagte dort die Anwältin der Angehörigen des Dortmunder NSU-Opfers Mehmet Kubaşık die bis heute dubiose Rolle des Verfassungsschutzes. Trage man alles Aktenschreddern und die vielen V-Leute im NSU-Umfeld zusammen, spreche dies nicht für Pannen im Umgang mit den Rechtsterroristen, sondern „für gezieltes Handeln“.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen