: Warum man mehr Willy wagen sollte
Das Willy-Brandt-Haus in Lübeck feiert Jubiläum
Von Esther Geißlinger
Was für ein Jahrzehnt, diese 1970er! Den Nachgeborenen fallen vor allem gewöhnungsbedürftige Klamotten und die Musik ein, aber wer damals drinsteckte, sah es vermutlich anders. Energiekrisen, Terror und dank Watergate Chaos im Weißen Haus – eigentlich alles genau wie heute. Nur das Wetter war noch nicht ganz so klimakatatrophig, an den Weihnachtsbäumen hing noch ordentlich Lametta und der deutsche Kanzler hieß ein halbes Jahrzehnt, von 1969 bis 1974, Willy Brandt.
Sein Leben verbrachte Brandt, der am 18. Dezember 1913 als Herbert Frahm in Lübeck geboren wurde, überwiegend nicht in seiner Heimatstadt. Erst musste er wegen der Nazis fliehen, nach dem Krieg kehrte er wegen weltpolitischer Irrelevanz gar nicht erst wieder in die Marzipanmetropole zurück. Er wurde zunächst Bundestagsabgeordneter in Bonn, dann Bürgermeister von Berlin, danach Regierungschef und schließlich Elder Statesman.
Trotzdem lässt es sich Lübeck nicht nehmen, mit einem eigenen Museum an ihren zweitgrößten Sohn – da gab’s ja noch diesen Thomas Mann – zu erinnern. In den hohen Räumen und lichten Dielen des Hauses in der Königstraße 21 sind Bilder, Tondokumente und vieles mehr aus dem Leben Brandts zu sehen. Vor zehn Jahren öffnete das Willy-Brandt-Haus und feiert das am Sonntag mit Veranstaltungen und einem Open House, was früher in den 70ern Tag der offenen Tür hieß.
„Mehr Willy“ heißt das Motto des Tages, was sich mit „wagen“ ergänzen ließe, nach Brandts berühmter Forderung, mehr Demokratie zu wagen. Wie „Demokratie im Zeichen der Digitalisierung“ aussieht, darüber diskutieren im Rahmen des Festprogramms im Brandt-Haus am Sonntag Medienleute mit Datenexperten.
Schnelle Informationen und die Chance der Vernetzung, aber auch Politik im Twitter-Takt und Trolle, die gegen Kommunalpolitiker hetzen: Nichts davon gab es zu Willy Brandts Regierungszeiten in den wilden 1970ern. Dass die virtuellen Netzwerke die Art des Politikmachens stark verändert haben, steht außer Frage. Doch im Rückblick bleibt nicht die Sekundenaufregung der Tweets. Was zählt, sind Taten und starke Gesten. Im Falle Brandts war das der Kniefall von Warschau. Mehr Willy wagen!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen