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Kampf um die Verfassung

Vor 70 Jahren bekam Bremen eine neue Verfassung. Die Mehrheit hatte sich eine andere gewünscht.

Mischte in Bremens Verfassungsdiskussion mit: Hermann Louis Brill Foto: Bundesarchiv

Von Jörg Wollenberg

Am 12. Oktober 1947 sprachen sich in einer Volksabstimmung 72,5 Prozent der Bevölkerung des Landes Bremen für die Annahme der Bremer Verfassung aus. Dem Referendum gingen lange Diskussionen in der Verfassungsdeputation, in den Parteien und Gewerkschaften voraus. Die SPD-Landesorganisation hatte die Diskussion angestoßen, unterstützt und begleitet von ihren Kulturpolitikern und Gründern des Weser-Kuriers um Hans Hackmack. Sie griffen dabei auf prominente Juristen aus den Reihen der Widerstandskämpfer gegen das NS-System zurück.

So kam schon drei Tage nach dem Beschluss der Bürgerschaft, eine demokratische Verfassung auszuarbeiten und vorzulegen, Hermann Louis Brill, der damalige Chef der Staatskanzlei im hessischen Staatsministerium, in Bremen zu Wort. Er hielt am 9. März 1947 einen Vortrag über Grundlagen einer bremischen Verfassung. Der Kulturausschuss der SPD-Bremen veröffentlichte das Referat im Juni 1947. Damit wollte die SPD „die Aussprache über die neu zu schaffende Verfassung der Freien Hansestadt Bremen wecken und anregen“, wie Hermann Lücke als Mitbegründer und Sprecher der Kampfgemeinschaft gegen den Faschismus (KGF) und der SPD nach 1945 in dem Vorwort festhielt.

Ein vergessener Antipode

70 Jahre danach wird es Zeit, an Hermann Louis Brill, den vergessenen Vater des Grundgesetzes und der Länderverfassungen in Thüringen und Hessen, zu erinnern. Ein vergessener Antipode nicht nur von Theodor Spitta, der zentralen Figur der Neugestaltung der Bremer Verfassungen von 1920 und 1947. Und das nicht nur, weil er in seiner Bremer Rede „für die Schaffung einer neuen Lebensordnung“ eintrat, die zu einer frühzeitigen und richtigen Eingliederung der Jugend und der Frauen in das gesellschaftliche Leben beitragen sollte. „Eine Politik, die ohne die Frauen gemacht wird, ist genau so unsinnig wie eine, die versuchen würde, gegen die Frauen zu arbeiten.“

Brill plädierte entschieden für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung für das Land Bremen mit Neuordnungsvorstellungen in den Fragen der Sozialisierung und Mitbestimmung. Und das in Anlehnung an die von ihm erarbeitete hessische Verfassung. Der von Brill ab 1936 im Widerstand immer wieder propagierte Verfassungsauftrag folgte dem Ziel, der „völligen Erneuerung des deutschen Volkes“ wenigstens in Ansätzen zur Realität zu verhelfen. Brill setzte sich deshalb nach der Befreiung vom Faschismus dafür ein, wie er am 9. März 1947 in seinem Bremer Vortrag vor SPD-Funktionären festhielt, „die deutsche Schuld“ abzubauen: „Wir haben alle nicht frühzeitig genug und nicht ausreichend genug gegen die Nazis gekämpft.“

Einer der geistigen Väter des Grundgesetzes

Deshalb gelte es, „das große Ziel, das sich die Verfassungspolitik stellen kann und muss“ voranzutreiben, nämlich „aus einer zerrütteten Gesellschaft den Grundgedanken der Demokratie, den Sozialismus zu retten, und schließlich so aus einer erschütterten Welt eine bessere Welt aufzubauen“. Dazu trug er in Thüringen, Hessen und ab August 1948 als einer der geistigen Väter des Bonner Grundgesetzes unter den 30 Staatsrechtsgelehrten bei, die mit den Bremern Theodor Spitta und Adolf Ehlers am Verfassungskonvent von Herrenchiemsee teilnahmen und den „Verfassungsentwurf“ vorlegten, der am 23. Mai 1949 als „Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland“ verabschiedet wurde.

Dabei galt Brills Hauptaugenmerk Problemen, die schon 1936 die Forderungen seines „Zehn Punkte-Programms“ ausmachten und die er in seiner Bremer Rede 1947 erneut zitierte: Aufbau eines demokratischen und sozialen Rechtsstaates mit gesicherten Bürger- und Menschenrechten, Ausbau der Selbstverwaltungsorgane und des Genossenschaftswesens wie auch der Notwendigkeit der Verstaatlichung der Banken, des Großgrundbesitzes, der Schwerindustrie und der Energiewirtschaft.

Die SPD- und KPD-Bürgerschaftsfraktionen waren seinen Vorstellungen weitgehend gefolgt. Sie stießen aber auf den Widerstand von Theodor Spitta und auf Zurückhaltung beim Bürgermeister Wilhelm Kaisen. Die Sozialdemokratie wolle die „Verfassung zum Kampfinstrument der Schaffenden gegen die Reaktion und das Besitzbürgertum machen“, verkündete das bürgerliche Lager. Und General Clay intervenierte am 5. September 1947 im Auftrag der US-Militärregierung gegen Teile der Verfassung, besonders gegen das Inkrafttreten der paritätischen Mitbestimmung.

Dennoch sprachen sich am 12. Oktober 1947 72,5 Prozent der Bevölkerung des Landes Bremen für die Verfassung aus. Die Intervention der Besatzungsmacht und das damit verbundene Ausscheiden der KPD aus dem Senat führten anschließend zur Bildung einer neuen Regierung aus SPD und Bremer Demokratischer Volkspartei (BDV) im Januar 1948. Sie verhalf den Gegnern des Volksabstimmungsvotums von 1947 zu einem späten Sieg. Für den Historiker Peter Brandt demonstriert das um seine Substanz beraubte Reformgesetz vom 30. Dezember 1948 „in nuce das Scheitern der sozialdemokratischen und kommunistischen Reformkonzeptionen in den Westzonen Deutschlands“ Damit ging auch die Erinnerung an die vielen Reformversuche und Arbeiterinitiativen nach 1945 verloren, die in den westlichen Besatzungszonen schon in der Illegalität zur Reorganisation der Arbeiterbewegung und der politischen Kultur beigetragen hatten.

Brill setzte seinen Widerstand auch im KZ Buchenwald fort

Hermann Louis Brill war einer von ihnen. Der 1895 in Gräfenroda/Thüringen geborene ehemalige Reichstagsabgeordnete hatte nach der Entlassung aus der „Schutzhaft“ ab Juni 1934 eine Gruppe von Demokraten, Sozialisten und Kommunisten zu einer „Deutschen Volksfront“ illegal zusammengeführt mit dem Ziel, „Deutschland aus der Schmach und Schande der Diktatur zu befreien … und die Gefahr eines neuen Weltkrieges mit allen Mitteln zu bekämpfen“. 1939 erneut verhaftet und in das KZ Buchenwald eingeliefert, setzte er dort den Widerstand fort. Er gründete im Februar 1944 mit Sozialdemokraten – u. a. Ernst Thape, den Vater vom Bremer Senator, zusammen mit Kommunisten und Bürgerlichen ein illegales Volksfront-Komitee und legte nach der Befreiung Buchenwalds am 13. April 1945 das Buchenwalder Manifest „Für Frieden, Freiheit und Sozialismus“ vor – neben dem „Schwur von Buchenwald“ das heute eher vergessene zentrale Manifest des Widerstandes gegen das NS-System. Das Manifest ging von der Erwartung aus, dass Deutschland ein baldiges Mitglied der „Weltorganisation des Friedens“ werden möge – bei gleichzeitiger Anerkennung seiner „schuldrechtlichen Verpflichtung der Wiedergutmachung der Schäden“, die unter der NS-Diktatur im Ausland angerichtet worden waren.

Systematische Aufarbeitung

Um diese Aufarbeitung systematisch voranzutreiben, initiierte Brill nach 1950 von Hessen aus als MdB die Gründung des Instituts für Zeitgeschichte in München. Und er plädierte 1952 nach der Unterwanderung der FDP in NRW durch ehemalige prominente Nazis („Gauleiterverschwörung“) für die Einrichtung von Lehrstühlen für die Wissenschaft von der Politik an den deutschen Universitäten. Diese Initiative verhalf seinen Freunden aus dem Widerstand um Eugen Kogon, Wolfgang Abendroth und Heinz-Joachim Heydorn zu Rufen nach Darmstadt, Marburg, Kiel und Frankfurt. Und sie erleichterte die von ihm geforderte Rückkehr der Emigranten von Fritz Bauer über Ernst Fraenkel bis zu Siegfried Landshut und Franz L. Neumann, mit denen er u. a. vor 1933 in der Sozialistischen HVHS Tinz bei Gera zusammengearbeitet hatte.

Jörg Wollenberg, Jahrgang 1937, ist Historiker und war als Hochschullehrer an der Universität Bremen tätig. Er ist Autor zahlreicher Bücher, zuletzt erschien das zweibändige Erinnerungswerk „Krieg der Erinnerungen – von Ahrensbök über New York nach Auschwitz und zurück. Eine Spurensuche“ und „Die andere Erinnerung – Spurensicherung eines widerständigen Grenzgängers“. Beides erschienen im Sujet Verlag, Bremen 2017. Der Text ist ein Auszug daraus.

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