Die gleichgeschlechtliche Ehe ist da: Viermal „Ja!“

Seit Jahren waren sie verpartnert. Am Sonntag haben Claudia und Dorle Göttler sowie Heinz-Friedrich Harre und Reinhard Lüschow heiraten dürfen.

Zwei Frauen und zwei Männer schneiden eine mehrstöckige Torte an

Die frisch Vermählten beim Anschneiden der Hochzeitstorte Foto: Kai Löffelbein

HANNOVER taz | Ein Herbsttag im Jahr 1991 in Hannover. Reinhard Lüschow sitzt am Küchentisch in einer kleinen Wohnung, er ist 30 Jahre alt, trägt ein Flanellhemd, kurze Haare und blättert durch ein schwul-lesbisches Stadtmagazin. Er entdeckt einen Artikel: Schwule und Lesben müssen auch heiraten dürfen, heißt es darin. Lüschow hatte von dieser Forderung gehört, ist skeptisch, liest aber weiter. Er erfährt von der Bundesarbeitsgemeinschaft schwuler und lesbischer Juristen. Lüschow liest: Gleichgeschlechtliche Paare haben kein Auskunfts- und Besucherrecht im Krankenhaus, kein Zeugnisverweigerungsrecht, kein Recht auf Totensorge, kein Bleiberecht für Partnerinnen und Partner aus dem Ausland, kein gesetzliches Erbrecht, es gebe horrende steuerliche Benachteiligung und keine Familienversicherung für die Krankenkasse, die Liste scheint endlos.

Lüschow hatte sich davor noch nie diese Fragen gestellt, erst kürzlich hatte er die Ehe mit seiner Frau beendet, um mit seinem Freund Heinz-Friedrich Harre zusammenzuleben. Lüschow zündet sich eine Zigarette an und blättert weiter, nach wenigen Minuten geht er noch einmal zurück zu dem Artikel und liest ihn erneut, drückt den Zeigefinger auf die Zeilen. „Heinz“, ruft er dann, „ich glaube, Heinz, die hier haben recht. Das ist doch ungerecht. Wieso dürfen wir nicht heiraten?“

Beginn eines Stücks deutscher Geschichte

Dieser Küchenzuruf ist der Beginn eines Stücks deutscher Geschichte. Es ist der Start eines Kampfzugs eines Paares, das zur neuen Generation von Schwulen und Lesben gehört, der sich nicht mehr mit der Nische zufriedengeben will, raus aus der Außenseiterrolle und rein in die Sichtbarkeit, vor dem Recht gleich und gemeinsam mit den anderen. Dieser Lebenskampf soll für Harre und Lüschow 25 Jahre dauern. Dass einem gleiche Rechte zustehen – darauf muss man, gewohnt, mehr oder weniger im Abseits seinen Platz bekommen zu haben, erst einmal kommen.

Am diesem Sonntag heiraten Harre und Lüschow in Hannover, ebenso Claudia und Dorle Göttler. Die zwei Paare gehören zu den ersten in Deutschland, die eine gleichgeschlechtliche Ehe eingehen – Ergebnis eines Gerechtigkeitskampfs, der von den beiden Männern mit bestritten wurde.

Vor 25 Jahren, am 19. August 1992, koordiniert der Schwulenverband in Deutschland (SVD) die bundesweite „Aktion Standesamt“: 250 homosexuelle Paare bestellen bei den Standesämtern ihrer Städte und Gemeinden das Aufgebot ihrer Hochzeit, darunter etwa die Komikerin Hella von Sinnen und Cornelia Scheel. „Homos stürmen Standesämter“, titelt die taz, Lüschow und Harre sind auf dem Foto in der Zeitung.

Im Juni 1994 wird nach 122 Jahren der Paragraf 175 aus dem deutschen Strafgesetzbuch gestrichen und damit die Verfolgung Homosexueller beendet. Die Homo-Vereine setzten sich nun die endgültige juristische Gleichstellung als oberstes Ziel: die Öffnung der Ehe. Lüschow und Harre treten in die Arbeitsgemeinschaft schwuler und lesbischer Paare ein. Sie sind jetzt politische Aktivisten.

Zur gleichen Zeit lebt Claudia Lesemann als Politikstudentin in Kairo. Sie hat einen ägyptischen Lebensgefährten, Mahmut – mit ihm gemeinsam taucht sie, damals 25 Jahre alt, in die Männerwelt der ägyptischen Hauptstadt ein. Mahmut nimmt sie mit in die Männercafés, sie spielen Backgammon. Die Männer nehmen die Frau an, eines Tages diskutiert das ganze Café darüber, welches arabische Wort wie ausgesprochen wird und die Männer steigen auf die Stühle, rufen „Claudia, Claudia“. Claudia wird später von einer aufregenden Zeit mit Mahmut erzählen. Aber die Liebe ihres Lebens sollte es noch nicht sein.

Demo vor dem Dom

1996 demonstrieren Lüschow und Harre mit anderen Schwulen und Lesben vor dem Dom in Hildesheim. In der Kathedrale wird das Bischofswort zur Ehe und Familie vorgetragen. Das Paar trägt ein Schild: „Unsere Liebe verdient Respekt.“ Einer Lokalzeitung sagt das Aktivistenpaar, auch sie seien Familie, gute Töchter und Söhne. Das müsse die katholische Kirche endlich anerkennen.

Im gleichen Jahr arbeitet Dorle Göttler als Kinderkrankenschwester in Soest. Seit 13 Jahren hat sie einen Freund, seit 13 Jahren schwärmt sie von Ägypten: ein Reisetraumziel; die Götter, die Pyramiden, die Wüste. In einem Katalog findet das Paar eine dreiwöchige Pauschalreise, eine Tour entlang des Nils, zu kleinen Dörfern und natürlich nach Kairo. Dorle Göttler und ihr Freund buchen die Reise. Doch wenige Monate später trennt sich das Paar. Dorle Göttler möchte die Reise dennoch antreten, er will es ebenfalls fahren.

Im Mai des gleichen Jahres stehen Reinhard Lüchow und Heinz-Friedrich Harre an einem Infostand des „Tummelplatz’der Lüste“ in Hannover. 35.000 Menschen besuchen an diesem Pfingstwochenende das Schwulen- und Lesbenfestival. Für 15 Mark kann man bei den beiden Männern eine Blitztrauung durchführen, sie sammeln mit anderen homosexuellen Paaren Unterschriften für eine Petition für die Öffnung der Ehe.

Wo Claudia ist, da ist Dorle

Im September 1997 trägt Claudia Lesemann ein Schild mit dem Namen eines Reiseveranstalters am Flughafen in Kairo in der Hand. Sie arbeitet nun als Reiseführerin und wartet auf die Gruppe, mit der sie die kommenden drei Wochen durch Ägypten touren wird. Als die Reisenden auf sie zulaufen, sieht sie eine Frau in schwarzer Lederhose. Es sind dieser Tage 30 Grad im Schatten in Ägypten, Claudia hält die Frau für verrückt.

In den kommenden Tagen wechselt Dorle Göttler von Lederhose zu bequemerer Kleidung, und hängt an den Lippen ihrer Reiseleiterin, die viel von ihrem Sehnsuchtsort Ägypten zu erzählen weiß. Schnell wird in der Gruppe klar: Wo Claudia ist, da ist Dorle. Sie reiten zusammen auf Kamelen durch die Wüste, sie baden im sauberen, südlichsten Teil des Nils. Claudia zeigt Dorle, was es auf den Basaren alles zu Essen gibt, Dorle verbringt die ganzen Tage mit der Reiseleiterin, ihr Exfreund hält sich zurück. Am letzten Abend spazieren die zwei Frauen am Strand. Dreimal fragt Claudia Dorle: „Ist es das, was ich denke, was es ist?“ Claudia reagiert nicht, erst nach mehreren Stunden Gespräch küssen sich die Frauen.

Täglich eines Postkarte

Als Dorle Göttler am nächsten Tag in ihrer Wohnung in Soest ankommt, hat sie sechs neue Nachrichten auf dem Anrufbeantworter: Ob sie schon zu Hause sei, wie es ihr gehe und warum sie sich nicht melde. Dorle Göttler lässt sich auf ihr Sofa fallen und grübelt zwei Stunden. Schließlich greift sie zum Telefonhörer. Claudia reist inzwischen mit der nächsten Gruppe durch Ägypten, danach, so entscheidet sie sich, will sie zurück nach Hannover, wo sie ursprünglich herkommt.

Dorle schickt nun täglich eine Postkarte mit Liebesnachrichten an Claudia, die sie über die Hotels ihrer Reiseroute erreicht. Die beiden telefonieren jede freie Sekunde. 900 Mark werden die Ferngespräche in diesen drei Wochen kosten. Am Tag von Claudias Ankunft fährt Dorle zum Flughafen nach Hannover, um die Liebe ihres Lebens zu empfangen.

„Uns rannte ja langsam die Zeit davon“

September 2017: Reinhard Lüchow und Heinz-Friedrich Harre sitzen in ihrem lichtdurchfluteten Wohnzimmer. Ein Schlauch liegt am Körper von Harre, er ist an COPD erkrankt, auch als „Raucherhusten“ bekannt, einer lebensgefährlichen Lungenkrankheit. Eine Atemmaske ersetzt die Luftaufnahme, er kann nur im Rollstuhl das Haus verlassen. „Uns rannte ja langsam die Zeit davon“, sagt er zum Hochzeitstermin am 1. Oktober, er ist inzwischen 65 Jahre alt. In ihrer Wohnung finden sich überall Regenbogenmuster, Hunderte Filme mit Musicals und schwulen Liebesgeschichten. Seit Jahrzehnten verfolgen sie den Eurovision Songcontest, erzählen sie – es sind die schwulen Klischees ihrer Generation, das Paar hat sie mitgeprägt.

1988, da war Lüschow noch mit seiner Frau verheiratet, besucht er die Schwulensauna „Vulkan“ und trifft dort auf Harre, der hinter dem Tresen arbeitete. Lüschow kannte die Schwulenwelt der 1980er zu diesem Zeitpunkt wenig, erst mühsam konnte er sich in einer Selbsthilfegruppe für schwule Ehemänner das Selbstbewusstsein erarbeiten, um zu seiner eigenen Homosexualität zu stehen.

Die Heirat mit der Frau war er eingegangen, um sich selbst zu vergewissern, dass er nicht schwul ist. „Doch so war es eben nicht.“ Spätestens als er auf Lüschow traf und merkte, dass es sich nicht nur um sexuelles Interesse, sondern auch um Liebesgefühle zu Männern handelt, gab es für ihn keinen Weg zurück, sagt er.

Am 30. Mai 1998 sagen Dorle Göttler und Claudia Lesemann das erste Mal „Ja“ zueinander. In der Thomas-Gemeinde in Laatzen laden sie Freunde und Familie ein. Claudia Göttlers Vater, der sich anfangs gegen die neue Beziehung gestellt hatte, geht auf seine neue Schwiegertochter zu: „Von nun an sagst du Schwiegervater zu mir.“

Emotionale Debatte

Die Fraktionen der rot-grünen Bundesregierung bringen am 10. November 2000 den Entwurf des Lebenspartnerschaftsgesetzes ein, im Bundestag wird heftig und emotional debattiert. Unions-Abgeordnete sprechen vom „Unwert“ homosexueller Paare und dem „schlimmsten Angriff auf Familie und Gesellschaft“. Gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP wird das Gesetz beschlossen.

Hannovers Bürgermeister Herbert Schmalstieg (SPD) veranlasst wenige Tage vor Inkrafttreten des Gesetzes, dass im Standesamt Hannover die Trauung der ersten Paare von neun auf acht Uhr vorverlegt wird. Er möchte dabei sein. Die beiden Paare sind damit die ersten in Deutschland.

Am 1. August 2001 um acht Uhr tragen Harre und Lüschow ihre Lebenspartnerschaft ein, um 8.20 Uhr folgen Claudia und Dorle, die nun beide Göttler mit Nachnamen heißen. Vor dem Standesamt erwartet die Paare ein Blitzgewitter von Fotografen, sie sollen Interviews geben, die Verbände organisieren eine Tanzgruppe. Beide Paare lernen sich das erste Mal kennen und werden völlig überrannt vom Gewimmel, landen mit Fotos in den Zeitungen der Welt und in der „Tagesschau“. In den folgenden Wochen erhalten sie Hunderte Briefe und Postkarten, Glückwünsche, aber auch eine kleinere Anzahl Anfeindungen sind dabei.

Harre und Lüschow werden nun jahrelang immer wieder von Zeitungen und Fernsehsendern angerufen. Sie werden zur NDR-Talkshow und zu „Tietjen und Hirschhausen“ eingeladen, werden neben den Kabarettisten Emil Steinberger gesetzt. „Da war plötzlich ein Interesse“, sagt Harre. Von der neuen Homoprominenz will man wissen, wer kocht und wer Rasen mäht, wie ihre Wohnung eingerichtet ist und immerzu wollen alle wissen, wie sie sich fühlen. Für ihre politischen Forderungen interessiert man sich nicht so sehr. „Dann haben die Menschen eben gesehen, dass wir ein ganz normales Paar sind.“ Vor 16 Jahren war das noch etwas Besonderes.

In den folgenden Jahren ziehen Lüschow und Harre mehrfach vor Gericht, weil sie die gleichen Rechte wie heterosexuelle Ehepaare einfordern. Ihre Anwältin: Maria Sabine Augstein, die lesbische Tochter des Spiegel-Begründers Rudolf Augstein, die auch mit anderen Paaren bis vor das Bundesverfassungsgericht zieht. Denn in dem Lebenspartnerschaftsgesetz sind mehr Pflichten als Rechte eingeschrieben. In Karlsruhe werden die Urteile nach und nach zugunsten der homosexuellen Paare gesprochen. Immer mal wieder bekommen sie kleinere Geldbeträge rückwirkend ausgezahlt, etwa als sie für das „Ehegattensplitting“ geöffnet werden.

Als sich vor wenigen Wochen die Ereignisse überschlugen, vom Merkel-Interview bis zur Abstimmung im Bundestag, erhielten sie Pushnachrichten auf ihrem Smartphone

Was die beiden Paare in den Jahren eint: das Reisen. Göttlers fahren nach Afrika, Indien, in die Türkei und nach Ägypten, die Männer zieht es vornehmlich nach Spanien und in die Türkei.

„Am Flughafen haben wir immer mal wieder Herbert Schmalstieg getroffen“, sagt Claudia Göttler im September 2017, die vom ehemaligen Bürgermeister schwärmt. Die beiden Frauen bewohnen ein Reihenhaus im ländlich geprägten Stadtteil Hannovers, Hemmingen. Sie haben einen Hund, der Quito heißt, zwei Katzen. Auf der Terrasse diskutieren die beiden Frauen: War es nun so oder so? Ganz einig ist man sich nicht über die Details ihrer Liebesgeschichte. „Nehmen wir ihre Version, das ist die schönere“, sagt Dorle.

Beide Paare sagen, sie seien mit der Zeit ruhiger geworden, vielleicht auch etwas schrulliger. Die Macken des anderen aushalten, so schafft man Jahrzehnte in einer Beziehung. Mit der Halblösung der eingetragenen Lebenspartnerschaft von 2001 waren sie nie zufrieden. Für ihre Nachbarn und Kollegen machte es aber kaum einen Unterschied. Die fragten eher: „Was ist denn dieser 1. Oktober, ihr seid doch schon verheiratet?“

Als sich vor wenigen Wochen die Ereignisse überschlugen, vom Merkel-Interview bis zur Abstimmung im Bundestag, erhielten sie Pushnachrichten auf ihrem Smartphone. Ob sie wieder dabei sein werden, stand kaum zur Debatte.

Der 1. Oktober 2017. Die Sonne strahlt am Hochzeitstag, nur ein paar Wolken ziehen über das alte Rathaus in Hannover, einem neugotischen Backsteingebäude. Immer wenn sie heiraten, treffen Reinhard Lüschow und Heinz-Friedrich Harre auf die Göttlers. Die vier haben sich rausgeputzt für den großen Tag. Über zweihundert Gäste sind gekommen, die Nachbarschaft der Göttlers, Freunde, Verwandte, Schaulustige und viele Journalisten. Und nicht nur der längst pensionierte Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg ist da, sondern auch Mahmut auch Kairo, Claudias früherer Freund, mit dem nun wirklich niemand gerechnet hat. Luftballons fliegen, eine große Torte ist da, Konfetti und Champagner. Und der Standesbeamte im Trauzimmer sagt ganz einfach zu Dorle und Claudia: Hiermit erkläre ich Sie zu Ehefrauen.“

Die Liebe des Lebens heiraten

Der 1. Oktober 2017 bedeutet auch für die kommenden Generationen: Jeder schwule Junge, jedes lesbische Mädchen, auch bisexuelle Menschen, werden nun in einem Deutschland aufwachsen, das ihnen verspricht: Auch du kannst die Liebe deines Lebens heiraten.

Es ist 15.15 Uhr, Höhepunkt der Zeremonie: „Ja“, sagen die vier Menschen. Seit Sonntag sind sie per Gesetz zwei Ehepaare.

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