China: Fragen über Fragen
Die Stimme aus dem Ausland
von Gu XiangLeitender Redakteur bei „China Business News“, SChanghai
Anfang des Jahres blickten viele Chinesen noch gespannt auf die politische Entwicklung in Europa. Mit den Niederlanden, Frankreich und Deutschland standen Wahlen in gleich drei europäischen Kernländern an. Und die knappe Mehrheit für den Brexit sowie Donald Trumps Wahlsieg in den USA im Jahr zuvor erweckten hierzulande bei vielen den Eindruck: 2017 könnte für Europa zum Schicksalsjahr werden.
So weit ist es bekanntlich nicht gekommen. Die antieuropäischen Kräfte sind sowohl bei den Wahlen in den Niederlanden als auch in Frankreich abgestürzt. Und es sieht auch nicht danach aus, dass bei den Bundestagswahlen am 24. September Angela Merkel verlieren wird. Sofern sie bis dahin keinen großen Fehler begeht, ist ihre Wiederwahl gesichert. Die rechte AfD jedenfalls dürfte ihr nicht so viele Wählerstimmen streitig machen.
Viele Chinesen überrascht das. Wie ist es den proeuropäischen Politikern gelungen, innerhalb kurzer Zeit den Rechtsruck zu stoppen? Und wieso dürfte sich die in vielen Teilen ihrer Wählerschaft doch recht unbeliebte Flüchtlingspolitik trotzdem nicht negativ auf ihr Wahlergebnis auswirken? Das sind Fragen, die hier in China mit Blick auf die Bundestagswahl aufkommen.
Ich will versuchen zu erklären, warum sich viele Chinesen gerade diese Fragen stellen. Dass die Deutschen rechtsextremen Ideologien nichts mehr abgewinnen können, das haben auch in China die meisten begriffen. Trotzdem haben viele hier noch immer das Verständnis einer Außenpolitik, die dem Denken der Hegemonialmächte des 19. Jahrhunderts entspricht. Ein beträchtlicher Teil der Chinesen glaubt nicht an die Existenz universeller Werte. Das Verständnis von weltweiter Versöhnung und Multikulturalismus ist vielen fremd.
Güte und Nächstenliebe werden oft belächelt. „Wir sind doch nicht als Mutter Teresa geboren“, heißt es dann abfällig. Dass Deutschland selbstlos so viele Flüchtlinge aufgenommen hat, sorgt hier bloß für Kopfschütteln. Wie die Geschichte mit dem Bauern und den Schlangen: Sie finden auch nicht zueinander. Obwohl Deutsche ansonsten in China einen guten Ruf genießen, halten viele Chinesen Deutschlands Flüchtlingspolitik für naiv.
Deshalb verstehen viele von ihnen auch nicht, warum diese bei der Bundestagswahl keine größere Rolle spielt. Samuel Huntingtons These vom „Zusammenprall der Zivilisationen“ scheint, anders als in China, in Deutschland nicht viel Anklang gefunden zu haben. Aus genau denselben Gründen dürfte aber auch Donald Trumps Wahlsieg hierzulande auf so großes Verständnis gestoßen sein.
Ich hoffe nur, wir Chinesen werden schon bald eines Besseren belehrt.
Übersetzung: Felix Lee
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