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Erzählungen vom Fliehen

FILM Für das Projekt „Wir sind Marzahn!“ haben Geflüchtete, die in Marzahn-Hellersdorf wohnen, kleine Filme über ihre Flucht­geschichten produziert. Es geht um Empowerment, aber auch um die Konfrontation besorgter Anwohner mit den Schicksalen

von Susanne Messmer

Eine Frau sitzt an einem Tisch vor einem offenen Pappkarton, streicht sich die Bluse über die Handgelenke und hält einen Bogen braunes Tonpapier ins Licht. Eine andere Frau sagt „Kamera läuft“. Nour, die Frau mit dem Tonpapier, die vor zwei Jahren aus Syrien kam und noch immer in diesem Flüchtlingsheim in Marzahn-Hellersdorf lebt, sagt auf Arabisch: „Ich war den ganzen Tag in meinem Haus, und ich war glücklich. Ich habe für meine Familie gebacken.“ Währenddessen faltet sie mit schnellen, fließenden Bewegungen einen kleinen Stuhl aus dem Tonpapier und stellt ihn an einen selbst gefalteten roten Tisch.

„Halt, stopp“, sagt Hanne Klaas hinter der Kamera, die nur auf Nours Hände gehalten hat. „Das müssen wir noch einmal machen“. Nour hat die falsche Stelle aus ihrer Fluchtgeschichte erzählt. In dem Moment, wo sie vom Backen berichtet, wollte sie noch nicht den Stuhl falten, sondern einen runden Papierschnipsel in den Händen wenden, als sei er ein Stück Teig.

Die Filmemacherinnen Hanne Klaas und Eva-Luise Volkmann müssen lachen, die Frau, die heute den Ton macht, und die Übersetzerin lachen auch. Am lautesten aber lacht die 30-järige Nour, die den Take verpatzt hat.

Filmvorführungen

Alle „Wir sind Marzahn!“-Filme werden im Rahmen der interkulturellen Tage in Marzahn-Hellersdorf gezeigt, einschließlich anschließender Diskussionsrunde, zum Beispiel am 19. 9., 17 bis 20 Uhr, Stadtteilzentrum im Kompass (Kummerower Ring 42, 12619 Berlin), 20. 9. 18 bis 20 Uhr, Jugendkulturzentrum die Klinke (Bruno-Baum-Straße 56, 12685 Berlin), 21. 9., 17 bis 20 Uhr, Stadtteilzentrum Mosaik (Altlandsberger Platz 2, 12685 Berlin, Eingang über Pritzhagener Weg).

Außerdem sind die Filme online zu finden: vimeo.com/wirsindmarzahn, www.facebook.com/WirSindMarzahn. (sm)

Es ist schwül an diesem Dienstagnachmittag in Marzahn-Hellersdorf, die Fenster des zehn Quadratmeter großen Raums müssen wegen des Straßenlärms draußen geschlossen bleiben. Die fünf Frauen in dem Raum arbeiten dennoch konzentriert. Immerhin geht es um die letzte Episode des Filmprojekts „Wir sind Marzahn!“.

Bei „Wir sind Marzahn!“ können Geflüchtete und Menschen mit Migrationshintergrund aus dem Bezirk unter Anleitung kurze dokumentarische und szenische Filmbeiträge drehen. Sie können sich mit ihrer Flucht- und Migrationsgeschichte auseinander setzen – gemeinsam mit den beiden Filmemacherinnen Hanne Klaas und Eva-Luise Volkmann, aber auch mit anderen neu oder alt eingesessenen Marzahn-Hellersdorfern, die Lust haben, mitzumachen.

Filme von Geflüchteten

„Es geht um Empowerment“, sagt Eva-Luise Volkmann bei einer kleinen Drehpause. „Es geht aber auch darum, die Filme in Marzahn-Hellersdorf zu zeigen und der Mehrheitsgesellschaft die Geschichten der Geflüchteten zu präsentieren. Die Menschen sollen sich gegenüber den Schicksalen der Menschen öffnen“, ergänzt Hanne Klaas.

„Es geht auch darum, die Filme im Bezirk zu zeigen“

Filmemacherin Eva-Luise Volkmann

Angeschoben wurde „Wir sind Marzahn!“ vom Bezirklichen Migrationssozialdienst. Insgesamt gab es drei Episoden. In dieser dritten sollten nur Frauen zu Wort kommen. Also stellten Eva-Luise Volkmann und Hanne Klaas das Projekt in diesem Flüchtlingsheim vor, etwa 20 Frauen aus Afghanistan, Syrien und Irak waren gekommen.

Bald schon war klar, dass viele der Frauen große Lust hatten, aber aus unterschiedlichsten Gründen anonym bleiben wollten, weshalb auch das Heim, in dem sie leben, in diesem Artikel nicht genannt werden darf. „Am Anfang hatten wir großen Respekt“, sagt Hanne Klaas, „weil Frauen in Tränen ausbrachen, als sie von ihren Geschichten erzählten.“

Die Filmemacherinnen wollten keine Retraumatisierung, sie sind keine Psychologinnen. Aber sie haben Erfahrungen. Hanne Klaas, 35, hat bereits mehrere Medienkompetenzprojekte realisiert, Videoworkshops für Kinder und Jugendliche zum Beispiel. Eva-Luise Volkmann, 36 Jahre alt, hat eine Produktionsfirma in Magdeburg. Unter anderem produzierte sie für die Auslandsgesellschaft Sachsen-Anhalt Portraitfilme über Geflüchtete, die den Bundesfreiwilligendienst absolvieren. Beide arbeiten in der film-politischen Bildung. Klaas und Volkmann wussten also, was zu tun war. Sie schlugen den Frauen vor, dass sie auch von ihren Wünschen und Träumen berichten könnten. Es wurde angenommen. Und am Ende verfilmten sie doch lieber ihre Fluchtgeschichten, auch ohne Tränen.

Nour erzählt in ihrer Geschichte vom ganz normalen Alltag in einem kleinen Dorf bei Damaskus, der prompt zu Ende ging, als die Miliz erst vor ihrem Fenster und dann in ihrem Wohnzimmer erschien. Nour sitzt mit Kopftuch beim Dreh, möchte aber vor allem deshalb nicht erkannt werden, weil sich ihr Bruder noch immer in einem kleinen Dorf in der Nähe von Damaskus versteckt hält und sie ihn nicht in Gefahr bringen möchte.

Zohra dagegen, die mit Mann und drei Kindern aus Afghanistan kam, erscheint ohne Kopftuch, dafür mit einer tomatenroten Bluse und silbernen Riemchensandalen. Trotzdem will auch sie im Film nur ihre Hände zeigen, beim Zeichnen, beim Nachzeichnen ihres Fluchtwegs, von dem sie berichten will. „Es war ein schwerer Weg,“ sagt sie. Und: „Niemand hat sich in den deutschen Ämtern für diesen Weg interessiert.“ Sie wollten alle nur wissen, warum sie hier ist. Zohra hat Bleistiftskizzen dabei, von Lkw voller Menschen, von Baracken voller Menschen, realistische Skizzen, genaue Skizzen.

Zohra und ihre Familie sind über die Grenze nach Pakistan gelaufen, mit dem Pritschenwagen ging es weiter, nach Iran. Von der türkischen Küste nahmen sie das Boot nach Griechenland, in Athen den Zug durch Mazedonien, Serbien, Ungarn, Österreich, bis nach Deutschland. Hanne Klaas hat am Vorabend eine Karte all der Länder erstellt, durch die Zohra und ihre Familie gereist sind.

taz-Serie Marzahn-Hellersdorf

Die Serie: Der Zuzug ist so groß wie seit DDR-Zeiten nicht mehr, seit April bringt außerdem die Internationale Gartenausstellung (IGA) viele Besucher nach Marzahn-Hellersdorf. Zeit für die taz, den Wandel im Bezirk mit einer Serie unter die Lupe zu nehmen – ob auf der Couch bei Plattenbau-Erstbeziehern, zu Gast beim Balkon-Kino oder auf einer Rave-Demo gegen Rechts. (taz)

Nun steht Zohra vor der Projektion der Karte an einer weißen Wand. Oft muss auch sie lachen, wenn sie nicht weiter weiß. Oder ihren Mann anrufen, wenn ihr wieder ein Name eines Ortes nicht einfällt, durch den sie gekommen sind. Man sieht, dass es ihr gut tut, dass sie über das sprechen kann, was sie möchte. Und das niemand hier nach Dingen fragt, über die sie nicht sprechen mag. Immer wieder macht sie Vorschläge, schaut sich das Gefilmte an.

Wie aber werden die Anwohner im Bezirk auf Zohras und Nours Film reagieren, wenn sie ihn in einem der Stadtteilzentren sehen, in denen bereits die anderen Filme des Projekts „Wir sind Marzahn!“ gelaufen sind?

„Unsere Erfahrungen sind sehr gut“, sagt Cordula Bienstein vom bezirklichen Migrationssozialdienst, der beim Integrationsbeauftragten von Marzahn-Hellersdorf angegliedert ist. Einen der ersten Filmbeiträge haben sie zum Beispiel im Stadtteilzentrum Mosaik im Süden Marzahns gezeigt, ganz in der Näher vom Blumenberger Damm. Dort ist 2015 eines der ersten Containerdörfer in dieser Stadt aufgestellt worden. Damals zogen bis zu tausend Menschen unter dem Motto „Nein zum Containerdorf“ durch das Viertel, darunter bekannte Rechtsextremisten wie „besorgte Anwohner“.

Filmvorführung im Bezirk

Bei der Filmvorführung im Mosaik kamen dann auch tatsächlich zwei besorgte Anwohnerinnen erzählt Cordula Bienstein. Nach der Vorstellung gaben sie sich ziemlich ablehnend. Von den Männern, die in den Filmen ihre Geschichten erzählt haben, wollten sie vor allem wissen: Wie konnten sie ihre Frauen und Kinder im Kriegsgebiet zurücklassen?

„Es war den Geflüchteten wichtig, dass die Anwohnerinnen sie persönlich kennenlernen, um zu verstehen, warum sie sich auf die Flucht begeben mussten“, erinnert sich Eva-Luise Volkmann.

„Die Anwohnerinnen sind mit Antworten nach Hause gegangen, die sie nachdenklich gemacht haben“, sagt Cordula Bien­stein.

Fast ein Jahr lang hat Bien­stein gebraucht, um dieses Projekt anzuschieben, um Geldgeber zu finden und gute Filmemacherinnen. Sie weiß jetzt, dass es sich gelohnt hat.

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