: Wenn der Staat nichts macht
Einbinden Die viel diskutierte Inklusion ist kein Selbstläufer. Wie das Prinzip Genossenschaft Menschen zusammenbringt und die Gesellschaft stärkt
Von René Hamann
Inklusion ist ein derzeit viel diskutiertes Thema. Die UN-Behindertenrechtskonvention existiert bereits seit 2007, die bestehenden Menschenrechte sollen um die Umstände der Menschen mit Behinderungen sukzessive erweitert werden, so steht es jedenfalls geschrieben. In der Praxis sieht das natürlich oft genug ganz anders aus. Da ist Selbsthilfe, auch in Organisationsfragen, oft der einfachere, direkte Weg. „Wir warten nicht auf gesetzgeberische Vorgaben“, schreibt zum Beispiel Urs Bürkle, Vorstand der VAUBANaise eG., auf deren Webseite. „Das Thema ist uns zu wichtig, um zu warten.“
So schafft diese Inklusionsgenossenschaft, die viel mit Behinderten arbeitet und sich zum Beispiel auch um Wohnraum für Geflüchtete, für Familien und „Menschen … mit unterschiedlichem Unterstützungsbedarf“ kümmert, zumindest ansatzweise Fakten. Ein Vorbild für andere soziale Träger, Einrichtungen, Unternehmen und Gemeinschaften, besonders dann, wenn der Staat nichts macht. Und der Staat macht, gerade Bedürftige wissen das nur allzu gut, oft genug nichts.
„Inklusionsgenossenschaften sind nun nicht nur Organisationen, die die Rechtsstruktur einer eG, einer eingetragenen Genossenschaft, gewählt haben“, schreibt Burghard Flieger, Autor und Sachverständiger, einer der wenigen landesweit anerkannten Experten auf dem Gebiet. „Vielmehr spiegeln sie die vier wichtigsten Charakteristika einer Genossenschaft wider: das Förder-, das Identitäts-, das Demokratie- und das Solidaritätsprinzip.“
Natürlich sind Bund, Länder und Kommunen von Gesetz her dazu verpflichtet, Strukturen für gleichberechtigte Teilhabe für Menschen mit Handicap zu schaffen. Wenn der Staat aber nichts macht, muss man sich selbst zu helfen wissen, und am besten geht das in einer Gruppe, in einer Gemeinschaft, die sich findet und organisiert. Ehrenamtliches Engagement ist da natürlich genauso wichtig wie Solidarität, auch finanzielle Unterstützung gerade am Start und in Phasen allgemeiner Überforderung. Und dann, mit der Konsolidierung, weiterführende Vernetzung.
Im Wesentlichen dreht sich das Thema Inklusion um ganz elementare Dinge: Wie wohne ich? Wer kann mich betreuen? Wo komme ich unter? Wie kann ich wo arbeiten? Es gibt schon seit einigen Jahrzehnten sehr gute Ansätze, aber die Realität sieht nicht immer rosig aus. Menschen mit Behinderungen arbeiten oft für niedrige Löhne, sind in vielerlei Hinsicht abhängig von Trägern, von Einrichtungen, von Bund, Ländern, Gemeinden, von wohlmeinenden Unterstützern, von ehrenamtlich Helfenden. Das wird sich auch nicht so rasch ändern.
Und gerade Behinderungen, Handicaps stehen einer genossenschaftlichen Arbeit da auch oft im Wege. Dennoch: Eine Genossenschaft ist auch in dieser Hinsicht eine gute Idee. Vom Wohnen zum Wohnraum -Schaffen bis dahin, eine Gemeinde zu bilden: Unter der Form einer Genossenschaft ist sehr viel möglich, und gerade flachere Hierarchien und offenere Strukturen können in lebenswichtigen Fragen entscheidend sein. Demokratie tut gut, gerade wenn der Staat nichts macht.
In Baden-Württemberg haben sich inzwischen auch Banken hinter die Idee einer Genossenschaft für Behinderte geklemmt. Unter dem Titel „unbehindert miteinander“ haben mehrere Lebenshilfeorganisationen Zulauf seitens Volksbanken und Raiffeisenbanken bekommen. Ziel ist es, eine „Sensibilisierung im Umgang mit Menschen mit Behinderungen“ zu erreichen – nicht nur in der Gesellschaft, sondern ganz konkret in Betrieben. Die Mitarbeitenden sollen dahingehend geschult werden; das Projekt wird gefördert. Am Ende lockt vielleicht das Prädikat „unbehindert miteinander“, das zu Werbe- und Imagezwecke verwendet werden soll.
Auch anderswo findet die Idee der Genossenschaften – einer inklusiven Genossenschaft oder eben einer Genossenschaft der Inklusion – regen Zulauf. Für den ohnehin ächzenden Arbeits- und Wohnungsmarkt (siehe linke Seite) ist eine Genossenschaft ein Tool, das gerade für Behinderte sehr, sehr gut funktionieren kann. Obendrauf gibt es ein sehr großes und mächtiges Wir-Gefühl. Fast gratis. Denn, wie es auch die Heinrich-Böll-Stiftung formuliert: „Genossenschaften gewinnen zunehmend an Bedeutung als ‚dritter Weg‘ zwischen Privatwirtschaft und Staat.“ Gerade für Menschen mit Behinderungen ist das ein erfolgversprechendes Geschäftsmodell.
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