Nach der Grenfell-Katastrophe in London: Evakuierungen im großen Stil
Hunderte Menschen müssen ihre Wohnung verlassen. Die Außenfassaden mehrerer Hochhäuser gelten als brandgefährlich.
Beamte von der Bezirksverwaltung gingen am Sonntag in Chalcots von Tür zu Tür, um die Bewohner zu überreden, ihre Wohnungen zu verlassen. Andernfalls können die Arbeiten, die zwei bis vier Wochen dauern sollen, nicht beginnen. Ein Beamter sagte, man habe zwar eine rechtliche Handhabe, um die Leute zwangsweise zu evakuieren, aber man würde dieses Mittel nur ungern anwenden.
In der Nacht zum Samstag wurden 650 Wohnungen in der Chalcots-Siedlung geräumt. Viele Bewohner beschwerten sich, dass man ihnen kaum Zeit gegeben habe, ihre Sachen zusammenzupacken. Manche hatten erst aus dem Fernsehen von der Maßnahme erfahren. Einige zogen zu Freunden, die anderen kamen in Hotelzimmern unter oder mussten in Turnhallen übernachten.
Andere Bezirksverwaltungen haben von Evakuierungen bisher Abstand genommen. Stattdessen setzen sie Patrouillen rund um die Uhr ein. Vielerorts hat man begonnen, die Verkleidungen abzumontieren oder nachträglich Sprinkleranlagen zu installieren. Die Firma Celotex, die in Grenfell die Verkleidung für 8,6 Millionen Pfund angebracht hat, erklärte, das Material werde ab sofort nicht mehr verwendet.
Premierministerin Theresa May hat eine Untersuchung angeordnet, um herauszufinden, ob die Kühl-Gefrierkombination der Firma Hotpoint, die das Feuer in Grenfell ausgelöst hat, einen Designfehler aufweist und aus dem Verkehr gezogen werden muss. Scotland Yard erklärte, dass die Verantwortlichen für das Feuer möglicherweise mit einer Anklage wegen Totschlags rechnen müssen. Kriminalkommisarin Fiona McCormack sagte aber, man wisse nicht, ob überhaupt Gesetze verletzt worden seien.
Schwache Brandschutzbestimmungen
Die Gesetze über Sicherheitsstandards sind in den vergangenen Jahren gelockert worden. Bis zu dem verheerenden Brand wollte die Regierung die Brandschutzbestimmungen für Schulen weiter abschwächen. Ron Dobson, Londons Brandschutzbeauftragter, sowie zahlreiche Abgeordnete warnten, dass die Pläne katastrophale Folgen haben könnte.
„Die Anzahl von Bränden in Schulen sei zurückgegangen“, entgegnete der zuständige Staatssekretär Nick Gibb jedoch. „Sprinkleranlagen würden die Baukosten um 2 bis 6 Prozent erhöhen. Diese zusätzlichen Kosten stehen in keinem Verhältnis zu den bescheidenen Ersparnissen durch geringere Schäden an Gebäuden.“
Davon will man jetzt nichts mehr wissen. David Amess, der Tory-Abgeordnete und Vorsitzende des Unterhaus-Ausschusses für Brandschutz, sagte, es sei verrückt, dass die Zahl der neuen Schulen, die mit Sprinkleranlagen ausgerüstet wurden, von 70 Prozent unter Labour auf heute 35 Prozent gefallen sei.
Nach der Katastrophe von Grenfell hat man die geplanten neuen Richtlinien schnell von der Webseite gelöscht. Ministerialbeamte behaupteten nun, man habe nie vorgehabt, die Brandschutzbestimmungen zu verwässern. „Wir betonen“, sagte ein Beamter zum Observer, „dass wir die Bestimmungen verschärfen werden.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren