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Kommentar Jamaika in Schleswig-HolsteinKeine Angst vor Verletzungen

Ulrich Schulte
Kommentar von Ulrich Schulte

Die Jamaika-Koalition in Kiel ist ein pragmatisches Zweckbündnis. Die Grünen stellen sich darin ihrem Wunsch zu verändern.

Eine traurige, aber logische Tendenz: Die klassische Sozialpolitik wird heruntergedimmt Foto: dpa

W as haben liberalkonservative Leitartikler für ein Jamaika-Bündnis geschwärmt. „Mit Jamaika wäre der Norden innovativ, wohlhabend und lässig“, begeisterte sich vor Wochen die Welt, auch die Regionalpresse war schier entzückt. Nun, da das Bündnis aus CDU, FDP und Grünen in Schleswig-Holstein steht, muss man zunächst recht banal feststellen: Jamaika in Kiel ist ein pragmatisches, kühl berechnetes Zweckbündnis. Nicht mehr – aber auch nicht weniger.

Gerade für die Grünen ist dieser Schritt eine kleine Revolution. Wer hätte vor zehn Jahren gedacht, dass sich die Ökopartei in einem nicht unwichtigen Bundesland mit den neoliberalen Todfeinden zügig und freundlich einigt? Das Jamaika-Experiment im Saarland war, verglichen mit dem, was sich in Schleswig-Holstein an Stabilität andeutet, ja eher eine chaotische Episode. Die Grünen stellen den Wunsch, zu verändern, über die Angst vor Verletzungen. Das ist in der Kieler Konstellation professionell und richtig, auch wenn sie ihre Erfolge im Koalitionsvertrag maßlos übertreiben.

Möglich wird das Kieler Bündnis nur durch sorgfältig austarierten Interessenausgleich. Union und FDP bekommen neue Straßen und Gewerbegebiete, die Grünen mehr Radwege und Investitionen in den öffentlichen Nahverkehr. Neue Millionen für Schulen, Hochschulen und die digitale Infrastruktur finden alle toll. Der höhere Landesmindestlohn, den Unternehmen bisher bei öffentlichen Aufträgen zahlen müssen, fällt weg.

Hier zeigt sich eine traurige, aber logische Tendenz: Das Jamaika-Bündnis schert sich wenig um die Interessen von Niedrigverdienern, die klassische Sozialpolitik wird heruntergedimmt. Das Versprechen Robert Habecks, die Grünen würden bei Jamaika zum „Vollsortimenter“, stellt sich als illusorisch heraus. Die Grünen sind bei diesem politischen Lagerwechsel in der Unterzahl – und damit beschäftigt, ein bisschen mehr für den Klimaschutz herauszuschlagen.

Ist Kiel nun ein Vorbild für den Bund? Ja, ist es, auch wenn Spitzengrüne gern darauf verweisen, dass die Themen schwieriger wären und die CSU mit an Bord wäre. Die Grünen sind fest entschlossen, jede kleine Chance für eine Regierungsbeteiligung zu nutzen. Und, das gehört zur Wahrheit dazu, die Aussicht auf die Verstetigung der Großen Koalition versprüht arg wenig Charme.

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Ulrich Schulte
Leiter Parlamentsbüro
Ulrich Schulte, Jahrgang 1974, schrieb für die taz bis 2021 über Bundespolitik und Parteien. Er beschäftigte sich vor allem mit der SPD und den Grünen. Schulte arbeitete seit 2003 für die taz. Bevor er 2011 ins Parlamentsbüro wechselte, war er drei Jahre lang Chef des Inlands-Ressorts.
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8 Kommentare

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  • taz: "Der höhere Landesmindestlohn, den Unternehmen bisher bei öffentlichen Aufträgen zahlen müssen, fällt weg." Das stimmt doch so garnicht was die taz behauptet!

    "Der Vergabemindestlohn von 9,99 € bleibt im Rahmen des Tariftreuegesetzes bestehen. Der Landesmindestlohn in Höhe von 9,18 € wird eingefroren bis 2019, dann gibt es einen Bundesmindestlohn der hoffentlich dem Landesmindestlohn entspricht. Das ist genau die politische Lage! https://www.facebook.com/andreas.tietze1/videos/10213757493841763/

  • 6G
    64938 (Profil gelöscht)

    Hallo Hr Schulte,

    was soll daran bitte so neu und sogar "revolutionär" sein.

    Schon vergessen die unselige Verbindung mit dem Privatisierungsbürgermeister Beust als Ersatz für die Schill Partei?

    Im Wahlkampf hieß es noch "Kohle von Beust", dann haben sie die Dreckschleuder sogar noch selbst realisiert.

    Ich hoffe trotzdem, das Habeck politisch nicht da endet, wo Kerstan heute ist...

  • Ich habe den schleswig-holsteinischen LV nachdrücklich gewarnt, aber die glauben tatsächlich, die Floskel mit dem "hohen politischen Verantwortungsbewusstsein" reiche aus, um den Mitgliedern und Wählern die Kopulation mit den extremsten Antagonisten (unter den noch leidlich demokratischen Parteien) verkaufen zu können. Aber ferner als FDP (noch dazu eines Kubicki) geht nun wirklich nicht.

     

    Ich fürchte, wir werden im September den Suizid erleben.

  • Gut die Klarstellung, dass die Grünen im Ernstfall den Mindestlohn fallen lassen.

    Das erleichtert für progressive Wähler die endgültige Abwendung von der - noch! - 6,5-Prozent-Partei.

    Vielleicht gibt es am 24. September ja sogar das ganz große Jammern im grünen Lager...

  • 8G
    81331 (Profil gelöscht)

    ...der Wunsch, zu verändern, was ist damit gemeint? Die Veränderung der Grünen? Die Veränderung der Gesellschaft, des Landes, der Nation, der Menschen?

    Wird wohl so sein.

  • Hallo Herr Schulte. Vielleicht rufen Sie bei Ihrer Recherche mal bei einigen Kreisverbänden der Grünen z.b. in Südhessen, Bergstraße oder in BW Rhein-Neckar, Heidelberg an. Seit SH-Jamaika angesagt ist, treten täglich, stündlich Grüne Mitglieder aus. Und wenn die Basis schmilzt, gibt es bald auch keine Abgeordneten mehr in Kommunen, Landtagen und Bundestag. Aber für Besuche von grünen Ortsverbänden , wie überhaupt bei Ortsverbänden der Parteien, haben Sie und Ihre Kollegen eigentlich nie Zeit, oder??

    • @SUDEK:

      Was ist schlecht daran, wenn täglich, stündlich, vlt. auch minütlich, Grüne Mitglieder austreten ?

      • @Nikolai Nikitin:

        Nun haben Sie's gesagt, lieber @Никола́й. Haben Sie auch noch etwas Substanzielles beizutragen?