Verwirrung Unser Autor hat mehrere Umschläge mit dem Aufdruck „Sozialwahl 2017“ weggeworfen. Das wäre beinahe schiefgegangen: Die armen Kinder!
von Till Raether
Die Krankenkasse hat mir dreimal seit Februar einen Fragebogen geschickt, um die weitere Familienversicherung der Kinder festzustellen. Das ist Routine, weiß ich inzwischen. Tatsache ist, dass ich aber offenbar alle drei Anschreiben ungeöffnet weggeschmissen habe, weil auf den Umschlägen immer ganz groß „SOZIALWAHL 2017“ stand.
Ich mach echt alles mit, aber ich hab im Januar, bevor die Fragebögen kamen, einmal einen dicken Brief von der Krankenkasse zur Sozialwahl 2017 geöffnet und studiert und festgestellt, dass ich hier die Grenze ziehen muss, was mein demokratisches Engagement angeht. Ich finde, zur Demokratie gehört auch, Verantwortung delegieren zu dürfen.
Ich habe keine Kapazitäten für die Sozialwahl 2017. Und ich bin damit nicht allein, die Wahlbeteiligung betrug zuletzt nur etwa 30 Prozent. Ich habe wirklich Hochachtung vor diesen 30 Prozent. Diese 30 Prozent sind das Rückgrat unserer Demokratie. Aber ich kann beim besten Willen nicht zu ihnen gehören.
Nun kriege ich auf einmal zwei weitere Briefe von der Krankenkasse, die ich bitte an die Kinder weiterleiten soll: Sie müssen sich nun selbst versichern, denn ihre Familienversicherung ist erloschen, weil ihr Vater einen Fragebogen dreimal nicht ausgefüllt hat.
Die Briefe sind in einem ganz netten, fast ironischen Ton geschrieben, zwischen den Zeilen lese ich: „Herr Raether. Was geht ab. Einen Fragebogen nicht zurückschicken, na gut. Zwei Fragebögen nicht zurückschicken, mag sein, kann passieren. Aber drei? Ihr Ernst? Sehen Sie, Ihre Kinder müssten sich nun tatsächlich selbst versichern, quasi vom Taschengeld, und klar, wenn Ihnen das besser gefällt: Hier sind die entsprechenden Schriftstücke. Aber, PS: Das Taschengeld zahlen dann auch Sie, oder? Also. Rufen Sie an, okay?“
Weil die Krankenkasse nicht dumm ist (vor allem kennt sie mich ja: Sie weiß, dass ich bereits in psychotherapeutischer Behandlung war und also vermutlich zum Grübeln neige), schickt sie mir diese Unterlagen für meine Kinder so, dass ich sie am Sonnabend bekomme. Das heißt, ich kann schön zwei Tage darüber brüten.
Ich weiß, es wird schon alles nicht so schlimm werden, aber: Manchmal weiß man das, und es reicht trotzdem nicht, um sich nicht aufzuregen. Also rege ich mich auf. Nach einer Weile geht es wieder (es stimmt wirklich, was hinten auf der Disaronno-Flasche steht, vulgo Amaretto: Dieser Likör mit Whiskey und Eis ergibt ein wohlschmeckendes Getränk, genauer gesagt, Gesöff. Ich würde jeden Brief aus Saronno öffnen).
Montagmorgen rufe ich bei der Krankenkasse an. Es ist alles kein Problem. Sie schicken mir gern den Fragebogen auch noch ein viertes Mal zu. Die Frau von der Krankenkasse ist so freundlich, dass ich ihr ungefragt erkläre, warum ich die ersten drei ungeöffnet weggeworfen habe.
Sozialwahl 2017 und so weiter. Weil das immer so groß auf dem Umschlag steht. Die Frau lacht sich kaputt, als hätte ich mir das zurechtgelegt als Gag, es erheitert sie wie ein gelungener Scherz.
Wieder wird mir klar, dass es Menschen gibt, für die es unvorstellbar und bestenfalls auf bizarre Weise komisch ist, Briefe ungeöffnet wegzuwerfen oder zu verkramen. Und es gibt Menschen wie mich, für die das Alltagsgeschäft ist. Tut mir leid wegen der hohen Krankenkassenbeiträge. Eine Menge davon wird Porto sein.
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