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Soziale Spaltung in der Schule nimmt zu

VERFASSUNG Laut einer Studie der Uni Hildesheim tolerieren die Länder Privatschulen als Hort der Bessergestellten. Dabei verbietet das Grundgesetz die „Sonderung“ der Kinder nach den Besitzverhältnissen ihrer Eltern

von Joachim Göres

Privatschulen boomen in Norddeutschland. In Mecklenburg-Vorpommern beispielsweise hat sich der Anteil der SchülerInnen an allgemeinbildenden Privatschulen von 2005 bis 2016 mehr als verdreifacht und liegt nun bei elf Prozent. Auch in den anderen norddeutschen Bundesländern nimmt der Anteil der PrivatschülerInnen zu: In Hamburg stieg er im selben Zeitraum von neun auf 10,7 Prozent, in Bremen von acht auf 10,2 Prozent. In Niedersachsen gingen 2005 noch 4,8, im vergangenen Jahr aber schon 6,3 Prozent der Kinder auf Privatschulen, in Schleswig-Holstein stieg die Quote in diesem Zeitraum von 3,5 auf 4,8 Prozent.

Damit liegen die fünf norddeutschen Bundesländer im allgemeinen Trend: Im Schuljahr 2015/16 besuchten bundesweit 743.534 Kinder und Jugendliche eine der 3.628 allgemeinbildenden Privatschulen. Das entspricht 8,9 Prozent aller SchülerInnen. Hier werden nach Aussagen verschiedener Untersuchungen vor allem Mädchen und Jungen angemeldet, deren Eltern überproportional häufig über eine höhere Bildung, einen hohen sozialen Status und/oder ein überdurchschnittlich hohes Einkommen verfügen.

Diese Entwicklung wird mit staatlichen Geldern massiv gefördert. So hat Berlin 2015 Privatschulen mit 243 Millionen Euro bezuschusst, 2005 lag die Summe noch bei 108 Millionen Euro. Der Jurist Michael Wrase, Professor für Öffentliches Recht an der Uni Hildesheim, hält das für problematisch: Der Gesetzgeber habe konfessionelle oder reformpädagogische Schulen erlauben wollen, aber keine Privatschulen für Besserverdienende.

Er bezieht sich auf das Grundgesetz, Artikel 7, Absatz 4: „Private Schulen als Ersatz für öffentliche Schulen bedürfen der Genehmigung des Staates und unterstehen den Landesgesetzen. Die Genehmigung ist zu erteilen, wenn die privaten Schulen in ihren Lehrzielen und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen Schulen zurückstehen und eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird.“

In einer Studie für das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung hat Wrase sich zusammen mit dem Bildungssoziologen Marcel Helbig von der Universität Erfurt mit dem sogenannten Sonderungsverbot beschäftigt. Dabei kommen sie zu dem Schluss: In keinem Bundesland wird die Einhaltung des Sonderungsverbots überprüft, in den meisten Bundesländern wird gegen elementare gesetzliche Vorgaben verstoßen.

Stipendien ungenügend

Es reiche nicht aus, wenn Privatschulen in Ausnahmefällen für besonders begabte oder arme Kinder Schulstipendien gewährten. Die Wissenschaftler verweisen auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1987: „Die Privatschule muss allgemein zugänglich sein, zwar nicht in dem Sinn, dass sie wie die öffentliche Schule jeden Schüler bei der Erfüllung allgemeiner Voraussetzungen aufnehmen muss, wohl aber in dem Sinne, dass sie grundsätzlich ohne Rücksicht auf deren Wirtschaftslage besucht werden kann.“

Wrase und Helbig gehen in ihrer Untersuchung angesichts eindeutiger Urteile davon aus, dass das Schulgeld derzeit im Durchschnitt aller zahlenden Eltern nicht höher als 160 Euro pro Monat betragen dürfe, wobei das Einkommen berücksichtigt werden müsse – wer wenig verdient, muss weniger zahlen.

Kaum migrantische Schüler

Die Praxis sieht anders aus. 2016 hat die Evangelische Kirche Deutschland (EKD) den Bericht „Statistik Evangelische Schule – Fakten und Trends 2012 bis 2014“ vorgelegt. Darin geht es um die 1.099 evangelischen Schulen in Deutschland, davon sind 478 Schulen allgemeinbildende Schulen, vor allem Grundschulen (199), weiterführend Schulen der Sekundarstufe 1 (121) und Gymnasien (93). Von den befragten allgemeinbildenden evangelischen Schulen, die Schulgeld erheben, gab es nur bei 32 Prozent eine Staffelung nach Elterneinkommen. Lediglich sechs Prozent der SchülerInnen hatten einen Migrationshintergrund – deutlich weniger als an öffentlichen Schulen. Zur sozialen Zusammensetzung der Klassen gibt es keine Aussagen.

Wrase und Helbig wundert das nicht. Sie haben die Schulgesetze aller Bundesländer unter die Lupe genommen und Anfragen an alle Kultus- bzw. Schulministerien gestellt. Insgesamt neun Kriterien haben die beiden Wissenschaftler überprüft, die sie aus dem Sonderungsverbot ableiten.

Das Ergebnis: In Bremen wird kein einziges Kriterium erfüllt, in Schleswig-Holstein eins, in Niedersachsen zwei und in Hamburg drei. Nirgendwo ist vorgeschrieben, die soziale Zusammensetzung an privaten mit denen an öffentlichen Schulen zu vergleichen – Voraussetzung, um die Einhaltung des Sonderungsverbots zu überprüfen.

Eine Höchstgrenze des durchschnittlichen Schulgeldes gibt es in Hamburg, Schleswig-Holstein, Bayern und Sachsen. Eine Staffelung des Schulgeldes schreiben Niedersachsen, Hamburg, Baden-Württemberg und das Saarland vor. Eine Befreiung von Beiträgen für GeringverdienerInnen und HilfeempfängerInnen verlangen Berlin (für zehn Prozent der Plätze) und Hamburg (für fünf Prozent).

Quoten nicht ausreichend

Für die zwei Autoren sind diese Quoten nicht ausreichend, da der Anteil der unter 15-Jährigen, die von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II leben, in Berlin bei 30 Prozent und in Hamburg bei 20 Prozent liegt. Diese gesetzlichen Regelungen für das Schulgeld gelten auch in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz – die einzigen Bundesländer, in denen Privatschulen faktisch kein Schulgeld erheben, da es ihnen von der staatlichen Förderung abgezogen würde.

In einem bisher unveröffentlichten Aufsatz für eine Fachzeitschrift stellen Wrase und Helbig am Beispiel Rheinland-Pfalz fest, dass es auch ohne Schulgeld einen ungleichen Zugang zu Privatschulen gibt: „Wie aber gezeigt, scheint die ökonomische Komponente nicht die einzig primär entscheidende Rolle bei der Privatschulwahl zu spielen, sondern eher Status und/oder Bildung der Eltern.“ Offen bleibt, ob Eltern unterer Schichten von Privatschulen häufiger abgewiesen werden oder sich weit seltener bewerben.

Stadtstaaten auffällig

Für das große Interesse höherer Schichten an Privatschulen gibt es aus Sicht der Verfasser dagegen zahlreiche Gründe, gerade dort, wo auf engstem Raum der Anteil armer und reicher Menschen immer mehr wachse. Dies werde in den Stadtstaaten besonders deutlich – in Bremen, Hamburg und Berlin gehen mittlerweile zwischen 7,6 und 9,9 Prozent aller Kinder in eine private Grundschule.

„Auch wenn es uns nicht gefallen mag, so spricht viel dafür, dass es für viele Eltern rational ist, ihr Kind nicht in eine Schule zu schicken, in der die SGB-II-Quote oder der Anteil von Kindern mit nicht deutscher Herkunftssprache eine bestimmte Schwelle überschreitet“, schreiben die beiden Wissenschaftler. Sie machen auch einen Vorschlag, um diese Entwicklung zu bremsen: Privatschulen sollten umso mehr finanzielle Förderung erhalten, je mehr einkommensschwache Schüler sie aufnehmen. Gleichzeitig sollten Privatschulen mit elitärer Schülerschaft die staatlichen Mittel gekürzt werden.

Privatschulen wehren sich

Private Schulträger wehren sich unterdessen gegen die Kritik der beiden Wissenschaftler. Der Bund der Freien Waldorfschulen beispielsweise weist darauf hin, dass ein Schüler einer allgemeinbildenden öffentlichen Schule im Jahr 2013 im Schnitt rund 7.100 Euro kostete, die durchschnittlichen staatlichen Zuschüsse für einen Waldorfschüler dagegen bei nur 4.820 Euro lagen. Dadurch würden Privatschulen teilweise gezwungen, Schulgelder oberhalb der Sonderungsgrenze zu erheben. Vorstandsmitglied Henning Kullak-Ublick sagt: „Wir haben es mit einer gesetzlich erzeugten Sonderung zu tun.“

Wrase und Helbig monieren dagegen, dass Privatschulen ohne Folgen überhöhte Schulgelder erheben können – eigentlich müssten sie geschlossen werden. Ihr juristisches Fazit: „Die gegenwärtige Verwaltungspraxis ignoriert diese verfassungsrechtlichen Vorgaben teilweise in einer Weise, die unseres Erachtens als ‚Missachtung‘ bezeichnet werden muss. Dies ist nicht nur aus rechtsstaatlicher Sicht besorgniserregend, sondern fördert eine Entwicklung, welche die ohnehin problematische soziale Segregation in den Schulen weiter forciert.“

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