Schauspieler, die aus dem Fenster steigen

Ägypten Vor der Freiheit der Rede kommt die Freiheit des Körpers: Theatermacher aus Alexandria organisieren ein Festival auf den Straßen der Stadt

An der Corniche von Alexandria Foto: Tom Mustroph

von Tom Mustroph

Alexandria war die Wiege der ägyptischen Revolution. Schon im Juni 2010, ein halbes Jahr vor der Besetzung des Tahrirplatzes in Kairo, probte hier die Bevölkerung den Aufstand, als sie ­gegen den brutalen Mord an dem 28-jährigen Khaled Saeed durch die Polizei protestierte.

Der Stolz, diese Entwicklung ausgelöst zu haben, ist vielen Einwohnern Alexandrias erhalten geblieben. Erst recht ihren Künstlern. Eine neue Künstlergeneration entstand durch die politische Bewegung. „Unsere Gruppe fand sich unmittelbar nach Beginn der Revolution zusammen. Und unser erstes Stück hatte die Revolution zum Thema“, erzählt Regisseur Tarek Nader der taz. Nader entwickelte in den folgenden Jahren dokumentarische Performances zur Lebensrealität von Blinden und arbeitet jetzt mit Storytellerinnen und Performerinnen zusammen, die von der all­gegenwärtigen Unterdrückung und Deklassierung der Frauen in Ägypten erzählen. „Es kommen viele junge Frauen in unsere Vorstellungen. Sie sehen ihre eigenen Probleme dargestellt und reagieren sehr emotional. Bei den Männern, auch denen aus den eher kultivierten Kreisen, nehme ich hingegen oft Furcht in den Augen wahr, wenn sie die Frauen so offen über ihre Probleme sprechen sehen“, beobachtet Nader.

Er gehört zu I-act, einer Dachorganisation freier Theatermacher, die seit 2012 das Backstreet Festival ausrichtet. Es lädt vor allem Straßentheatermacher aus Europa ein und will damit den öffentlichen Raum zurückerobern. Als bei der vierten Ausgabe des Festivals im März 2017 die mit blauer Gesichtsfarbe angemalten Straßentheaterkünstler der Marseiller Gruppe Generique Vapeur ausgerechnet durch jenes Viertel zogen, durch das der einstige Blogger und Revolu­tions­heros Saeed auch gestreift war, und dabei einen langen Zug von Schaulustigen kreierten, mutete diese Menschenbewegung für kurze Momente wie ein Echo der einstigen Demonstrationen und Proteste an. Menschen waren wieder zusammen unterwegs, teilten Emotionen und Eindrücke.

Zwischen Hoffnung und Resignation

Dennoch, das Echo der revoulutionären Bewegungen ist schwach geworden. Allgemein hat sich Resignation breitgemacht in Alexandria. „Die künstlerische Produktivität ist zurückgegangen. Das liegt an einem Mangel von Infrastruktur und Förderung, aber auch an neuen Gesetzen, nach 2013 erlassen“, erklärt Abdalla Daif, selbst Regisseur und Mitbegründer des Künstlernetzwerks Gudran Association. 2013 übernahmen die Militärs die Macht. Sie schränkten die Bewegungsfreiheit im öffentlichen Raum massiv ein. „Kurz nach der Revolution konnten sie das nicht sagen. Da war das Volk der erste und auch der zweite Bürger der Republik. Jetzt aber sagen sie, es sei unsicher auf der Straße“, erklärt Mahmoud Abodouma, Nestor der unabhängigen Theaterszene in Alexandria, der schon 1989 die Alternative Theatre Group gründete und auch Leiter des Backstreet Festival ist.

Genehmigungen zu erhalten ist unter dem Regime des sowohl von Angela Merkel wie von Donald Trump hofierten Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi ein wahrer Hindernisparcours. „Wenn wir ihnen sagen, dass wir ein Stück planen, bei dem die Schauspieler aus dem Fenster steigen, bekommen sie es mit der Angst zu tun. Sie fürchten, dass sie, wenn etwas passiert, aus dem Dienst entlassen oder irgendwohin in die Provinz versetzt werden“, erzählt Abodouma just an dem Tag, an dem Fassadenperformer der Berliner Gruppe Grotest Maru und ihre ägyptischen Kollegen der Alternative Theatre Group sich tatsächlich aus den Fenstern der Deutschen Schule in Alexandria abseilen. Die Kunst hatte da der Macht mal wieder ein Schnippchen geschlagen; für die Performance innerhalb des großen Schulareals brauchte es nur die Genehmigung der Schule. Die Spieler wirbelten durch die Luft und erzählten auch ohne Sprache von den Freiheiten des Körpers.

Für Abodouma hat die Befreiung des Körpers größere Priorität als die Redefreiheit selbst. „Wir müssen erst die Werkzeuge für die freie Kommunikation schaffen“, meint er. Deshalb organisiert er Theaterworkshops, in denen Männer und Frauen, Mädchen und Jungen überhaupt erst lernen, Körperkontakt aufzunehmen. „Anfangs haben sie noch Scheu, sich bei den Händen zu fassen. Wenig später greifen sie dann aber fest zu“, berichtet er. Und seine Augen blitzen vor Freude, als er von der Tango-Performance der argentinischen Künstler Agustina Zero und Maxi Prado erzählt: „Sie haben das ganze Publikum zum Tanzen gebracht.“

Befreiung über die klassischen Theaterwege Emotion und Intellekt findet aber auch statt in Alexandria. Abdalla Daif etwa entwickelte 2016 die Performance „The Store“, in der das ägyptische Publikum die Reise von afrikanischen Migranten bis an die Mittelmeerküste nachvollzog und sich für einige bedrückende Momente komplett einer Schleuser-Gang ausgeliefert sah. Da ist Alexandrias freie Theaterszene thematisch näher dran an Berlin als gedacht.

Dem Anschlag vom Sonntag fiel keiner der Organisatoren des Straßentheaterfestivals zum Opfer. Aber der Schreck darüber, wie bedroht der Alltag in Alexandria ist, fuhr allen Beteiligten noch nachträglich in die Knochen.

Der Autor war zehn Tage in Ägypten im Rahmen einer Koproduktion zwischen Grotest Maru (Berlin) und der Alternative Theatre Group (Alexandria).