Filmemacher über Erinnerungskultur: „Sie haben diese Zeit nicht erlebt“
Der Dokumentarfilm „Austerlitz“ zeigt das Verhalten der Besucher von Holocaust-Gedenkstätten. Regisseur Sergei Loznitsa über Zeitzeugen und Grenzen des Erinnerns.
taz: Herr Loznitsa, wer Ihren Film anschaut, sieht zunächst einmal viele Menschen. Reisegruppen, Familien, Einzelpersonen, die sich durch Gebäude, Tore und über Gehwege drängen. Zerstört der Massentourismus die Idee des Gedenkens?
Sergei Loznitsa: Das kann ich nicht sagen. Aber mit meinem persönlichen Hintergrund ist es sehr befremdlich, das Verhalten der Leute in den Gedenkstätten zu sehen. Ich lese daraus Respektlosigkeit gegenüber den Opfern und der gesamten Situation. Vielleicht liege ich da aber auch falsch und ich gehöre einer alten Generation an.
Die gute Nachricht ist ja, dass immer mehr Menschen Gedenkstätten besuchen. Es wäre doch viel bedenklicher, wenn niemand mehr käme, oder?
Ich kann verstehen, wenn Leute nicht zu diesen Orten gehen wollen. Was sollen Menschen denn dort? Es gibt Steine, die Zeugen von Tötungen geworden sind. Man lernt technische Details kennen. Wie eine Fabrik Menschen zu Staub gemacht hat. Wofür brauche ich dieses Wissen? Ich kann das alles in Büchern nachlesen.
Aber sind Gedenkstätten nicht auch Mahnmale, damit so etwas wie der Holocaust nie wieder passiert?
Diese Orte bewahren nicht davor, dass sich so etwas wiederholt. Der einzige Grund, dorthin zu gehen, ist, um zu beten, zu weinen und der Opfer zu gedenken. Denn es sind große Friedhöfe.
Als Zuschauer Ihres Films schwankt man zwischen Empörung und Mitgefühl. Wenn die Besucher in Dachau nun mal Hunger haben, dann sollen sie essen. Auch in einer Gedenkstätte . . .
1964 in Weißrussland geboren, studierte Regie in Moskau und hat seit 1996 18 Dokumentarfilme gedreht, darunter „Austerlitz“ über deutsche KZ-Gedenkstätten.
Natürlich kannst du niemandem verbieten zu essen. Das zu verurteilen wäre lächerlich. Aber vielleicht ist das nicht der richtige Ort. Da geht es um einen schmalen Grat. Es ist etwas Ethisches, etwas Kulturelles. Was mir aber vor allem aufgefallen ist: Die Leute an diesen Orten sind international. Es gibt nicht nur Deutsche, auch Amerikaner, Australier, spanischsprachige Menschen. Aber irgendwie verhalten sich alle Leute ähnlich. Sie sind auf eine interessante Art und Weise gleich.
Die Menschen in Ihrem Film schauen und schauen und schauen. Aber da ist niemand, der ihnen wirklich etwas erklärt. Wie wichtig sind Zeitzeugen für die Erinnerung?
Eine Situation zu erleben und von ihr zu hören sind zwei grundverschiedene Dinge. Deshalb verändert sich auch das Verhalten der Leute in Gedenkstätten. Sie haben diese Zeit nicht erlebt. Und ich bin skeptisch, ob sie verstehen werden, wenn Sie Zeitzeugen treffen. Aber trotzdem: Wie können wir diese Erinnerung organisieren, oder ist das überhaupt möglich? Das ist auch Thema meines Films.
In einer Szene lässt sich eine junge Frau vor einem Tor mit der Aufschrift „Arbeit macht frei“ ablichten. Danach ist sie nur noch damit beschäftigt, zu überprüfen, wie sie auf dem Bild aussieht . . .
Sie haben ja gerade gesagt, es sei gut, dass viele Leute kommen. Ich weiß nicht, ob das allein eine gute Nachricht ist. Zumindest wenn Sie kommen, Fotos machen und sich dann nur für ihr Aussehen interessieren. Für mich sagt das viel über die Zukunft. Und da mache ich mir wirklich Sorgen.
Sie sind pessimistisch, was die Zukunft betrifft?
Eine zentrale Idee ist ja immer noch da. Die Einteilung von Menschen nach ihrem Pass. Es kommt nicht darauf an, wer du bist, sondern welchen Pass du hast.
Sind wir auf dem Weg in autoritäre Strukturen?
Es kommt darauf an, wie gebildet und wie verantwortungsvoll die Menschen sind. Jetzt gibt es in Deutschland eine Demokratie. Du kannst dort arbeiten, schreiben und diskutieren. Das heißt aber nicht, dass das auch morgen noch so sein wird. Wir müssen jeden Tag unseres Lebens dafür kämpfen.
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