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Eine neue Platte

Marzahn-HellersdorfDer Bezirk war lange Jahre das Synonym für „Geht gar nicht“. Nun soll die Internationale Gartenausstellung Touristen anlocken. Was wird aus der einstigen Vorstadthölle?

Von Bert Schulz (Text) und Sebastian Wells (Foto)

Marzahn war ein Schreckenszenario, der Inbegriff der urbanen Hölle. Voll trister Plattenbaubunker, Nazis, untoter Stasi-Spione, Spätaussiedler. Ein zum Sozialgetto gewandeltes Ex-DDR-Paradies, kulturlos, dazu im besten Berliner Sinne jwd. Dort einen Termin zu haben, vielleicht sogar dorthin ziehen zu müssen, kam einer Verbannung gleich. Zum Glück traf es kaum jemanden, jedenfalls niemanden, den man kannte.

Das in etwa war das Image Marzahns vor 15 Jahren, auch noch vor 10 und sogar noch vor 5 Jahren. Für all jene, die nicht dort wohnten. Und vor allem für jene, die in der Innenstadt, innerhalb des S-Bahn-Rings die letzten wirklich spannenden Jahre miterlebten, die noch zur Nachwendeära Berlins gehören. Jenes Berlin, das direkt in seinem Zentrum so viel Luft und Leere zu bieten hatte, das zu einem Abenteuerspielplatz geworden war, sodass es keinen Grund dafür gab, rauszufahren, um nachzuforschen, auf welchem Stern die Kosmonauten am Ende ihrer Allee landen.

Diese Nachwendeära in Berlin ist sei zwei, drei Jahren endgültig vorbei. Für den Stadtrand ist das positiv: Seitdem darf man zur Stadt auch Marzahn zählen, einschließlich natürlich des Bindestrichpartners Hellersdorf.

Der Bezirk in Zahlen & Fakten

Der Bezirk Marzahn-Hellersdorf hatte Ende Dezember 2015 rund 262.000 EinwohnerInnen – auf einer Fläche von 61,8 Quadratkilometern.

Gegründet wurde der Bezirk Marzahn am 5. Januar 1979. Aus der Teilung des Bezirks ging am 1. Juni 1986 der Bezirk Hellersdorf hervor.

Der seit dem 1. Januar 2001 wieder fusionierte Großbezirk umfasst nicht nur das Großsiedlungsgebiet mit seinen rund 100.000 Wohnungen, in denen zwei Drittel der Bevölkerung leben, sondern auch die Kleinsiedlungen Biesdorf, Kaulsdorf und Mahlsdorf, die sich auf zwei Dritteln der Bezirksfläche erstrecken. Die fünf Dörfer Biesdorf, Hellersdorf, Kaulsdorf, Mahlsdorf und Marzahn blicken auf eine jahrhundertealte Geschichte zurück. Schon germanische und slawische Stämme siedelten in der Nähe der Wuhle. Sie entstanden um die Mitte des 13. Jahrhunderts, als deutsche Siedler in der Nähe des Wuhlelaufs die Wälder rodeten und Landwirtschaft betrieben. Erstmals urkundlich erwähnt wurden sie zwischen 1300 und 1375.

1920 wurden die bis dahin zum Kreis Niederbarnim gehörenden Dörfer nach Berlin eingemeindet. (taz)

Das Ende dieser Epoche lässt sich leicht anhand einiger Statistiken zum Wohnraum ablesen. 2002 betrug der Wohnungsleerstand in ganz Berlin knapp 10 Prozent. Er war die Grundlage, die aus Mitte und Prenzlauer Berg, aus Friedrichshain und Neukölln jene urbanen Spielwiesen machte, die das Image von Berlin als Großstadt mit viel billigem Raum für Kreative prägte und Menschen aus vielen Ländern der Welt anlockte.

Plattenbauten zurückgebaut

In Marzahn-Hellersdorf sah die Lage Anfang der Nullerjahre – welch treffender Begriff für den Stadtrand – ein bisschen anders aus. Dort standen im Schnitt 14 Prozent der Wohnungen leer, in Marzahn-Nord sogar bis zu 60 Prozent. Wer konnte, zog von dort weg. Selbst die Häuser verschwanden: Um das Angebot zu verknappen, wurden hohe Platten- zu niedrigen Plattenbauten zurückgebaut.

Inzwischen kann von billigem, ja selbst von verfügbarem Wohnraum in der Innenstadt nicht mehr die Rede sein. Und sogar nach Marzahn-Hellersdorf lässt es sich kaum mehr ausweichen, selbst wenn man dies wirklich wollte: Der Leerstand in dem Bezirk liegt bei 2 Prozent und damit im Berliner Schnitt. Der Soziologe Sigmar Gude sprach in der taz im März von einer „echten“ und „harten Wohnungsnot“, die in der Stadt inzwischen herrsche. Selbst am Stadtrand gibt es keine freien Wohnungen mehr. Ein Blick in die gemeinsame Vermittlungsseite der sechs landeseigenen Wohnungsunternehmen, denen auch ein guter Teil der Plattenbauten in Marzahn-Hellersdorf gehört, belegt das: Die einzigen Vier-Zimmer-Mietwohnungen mit einem Quadratmeterpreis unter 10 Euro im Angebot befinden sich in Marzahn. Aber es sind gerade mal – zwei.

Marzahn ist nicht die Banlieue geworden, vor der Stadtforscher bis vor Kurzem noch warnten, sondern ein begehrtes Wohngebiet

Marzahn ist nicht die Ban­lieue geworden, vor der Stadtforscher bis vor Kurzem noch gewarnt haben, sondern ein durchaus begehrtes Wohngebiet. Die Stadt ist in den vergangenen Jahren zusammengewachsen. Die seit den 90ern bestehende Grenze zwischen Innen- und Außenstadt, zwischen urbanem Epizentrum und angepappten Wohnsiedlungen, markiert durch den S-Bahn-Ring, hat dramatisch an Bedeutung verloren.

Dieses Ende der Nachwendeära lässt sich auch daran ablesen, dass die Internationale Gartenausstellung – kurz IGA – ab kommenden Donnerstag in Marzahn stattfindet (siehe Seite 43) und nicht wie ursprünglich geplant auf dem Tempelhofer Feld. Natürlich gab es viele Gründe für die Verlegung und der erfolgreiche Volksentscheid 2014 hätte die IGA auf dem ehemaligen Flugfeld sowieso verhindert. Die Blumenschau wurde auf eine Art aus der Innenstadt hinausgentrifiziert – wie schon so mancher Kreuzberger. Im Gegenzug drängte drängt sich der lange ausgeblendete östliche Stadtrand stärker denn je ins Bewusstsein der Berliner. Eine Art umgekehrte Gentrifizierung. Marzahn-Hellersdorf ist zu einer Berliner Normalität geworden, deutlich heterogener als viele Ecken in der Innenstadt wie Mitte oder Prenzlauer Berg.

Und jetzt? In Berlin neigt man dazu, Orte, die sich positiv verändern, wo etwas Spannendes passiert, mit dem Begriff „Trend“ zu verbinden. Was natürlich a) ein Hype um des Hype willen und b) oft einfach Blödsinn ist, wie das Beispiel Wedding zeigt, der seit 20 Jahren als künftiger (innen­städtischer!) Szenekiez hochgeschrieben wird – ohne großartigen Erfolg.

Im Osten geht die Sonne auf

Wie wird sich Marzahn-Hellersdorf in den nächsten fünf bis zehn Jahren verändern? Wird die IGA Investoren anlocken und Verdrängung befördern? Wird Berlins Jwd die Alternative zur Flucht nach Brandenburg? Werden jene Geflüchtete, die dorthin gezogen sind, besser aufgenommen als in der Vergangenheit? Die taz wird in diesem Sommer regelmäßig nach Osten blicken, wo die Sonne aufgeht, und Antworten auf diese Fragen suchen. Diese Ausgabe macht den Anfang.

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