piwik no script img

Die Geduldeten Dass sein Sohn heute religiös lebt, stört den Palästinenser Ali Hajjaj nicht. Dabei floh er selbst als Sozialist aus dem Libanon, erst in die DDR, später nach Westberlin. 17 Jahre war er hier nur geduldet und durfte nicht arbeiten. Sein Sohn Mohamad erkämpfte sich das Recht, Jura zu studieren. Ein Gespräch über Flucht, Staatenlosigkeit und die Vereinbarkeit von Linkssein und Islam„Wir sind Mainstream“

Interview Alke WierthFotos Piero Chiussi

taz: Herr Hajjaj, Ihr Sohn Mohamad hat mir erzählt, Sie seien ein Linker, stimmt das?

Ali Hajjaj: Ja, ich bin ein Linker!

Hat es Sie da nicht beunruhigt, dass Mohamad sich religiös engagiert?

Ali: Nein, warum denn?

Ist nicht der Islam eine Religion, die die Einhaltung bestimmter Vorschriften im Diesseits verlangt für einen guten Platz im Jenseits, während linke Politik eher das Diesseits verändern, verbessern will?

Mohamad Hajjaj: Also, wenn ich darauf antworten darf: Die ursprüngliche Idee des Kommunismus zielte darauf ab, das Proletariat von der Unterdrückung der Bourgeoisie zu befreien. Ein durchaus nobler und gerechter Ansatz. Übrigens gibt es zahlreiche Abhandlungen von muslimischen Gelehrten, welche den Kommunismus thematisieren und mit islamischen Standpunkten vergleichen.

Sie sind also auch ein Linker?

Mohamad: Ich bin in der SPD und sehe mich innerhalb der Partei dem linken Flügel zugehörig, mit einigen Sympathien auch für die Linkspartei.

Ali: Ich bin sehr säkular. Die Religion ist für Gott, die Beziehung zwischen mir und Gott. Der Sozialismus ist gesellschaftlich, die Beziehung zwischen mir und der Gesellschaft, den Menschen untereinander. Deshalb sehe ich keinen Widerspruch zwischen Linkssein und Religio­sität.

Sie waren als Sozialist im Libanon politisch aktiv?

Ali: Ja, deshalb musste ich den Libanon verlassen. Ich hatte drei Jahre in Bagdad arabische Literatur studiert in der Zeit von Saddam Hussein. Als der Krieg zwischen dem Iran und dem Irak begann, bin ich zurück in den Libanon gegangen, wo meine Familie in einem Flüchtlings­lager für Palästinenser lebte. Dort habe ich als Leiter der Jugendorganisation einer kommunistischen Partei gearbeitet. Dann wurden mir Beziehungen zur Baath-Partei unterstellt und ich musste flüchten.

Mohamad: Es gab damals Konflikte zwischen der syrischen und der irakischen Baath-Partei, und der Libanon war damals quasi von der syrischen Armee besetzt. Meinem Vater wurden Verbindungen zur irakischen Seite unterstellt, weil er ja mit einem Stipendium der irakischen Regierung im Irak studiert hatte. Er wurde deshalb vom syrischen Regime Hafis al-Assads gesucht und bedroht und flüchtete 1989, zunächst in die DDR.

In welchem Flüchtlingslager lebten Sie?

Ali: In Nahr al-Bared, nördlich von Tripolis. Das Lager ist vor knapp zehn Jahren von der libanesischen Armee fast völlig zerstört worden. Wir hatten noch ein Haus dort, aber es steht nicht mehr. Gerade jetzt beginnt der Wiederaufbau, auch mithilfe der Europäischen Union. Deshalb war ich vor zwei Jahren dort, um zu bestätigen, welches unser Haus war.

Sind Sie in dem Lager geboren?

Ali: Ja, am 17. Oktober 1958. Meine Eltern mussten 1948 aus ihrem Heimatdorf in Palästina flüchten, das im Norden des heutigen Israel lag, nahe der Stadt Safad. Das Dorf, Alma, gibt es nicht mehr, es wurde 1948 zerstört. Die Bewohner sind damals alle nach Syrien und in den Libanon gegangen.

Wie alt waren Sie, als Sie aus dem Libanon geflüchtet sind?

Ali: Ich war 31 Jahre alt und Vater von vier Kindern. Ich habe einen Schleuser bezahlt, der mich erst mal in die DDR gebracht hat. Von dort aus bin ich dann nach Westberlin gegangen, da bin ich am 16. Juni 1990 angekommen.

Sie sind aber hier geboren, Mohamad, oder?

Mohamad: Nein, ich bin auch im Libanon geboren. Ich war dreieinhalb Jahre alt, als wir mit meiner Mutter dann nachkamen.

Ali: Das war am 11. November 1990.

Per Familiennachzug?

Mohamad: Nein, der Asylantrag meines Vaters wurde ja abgelehnt. Wir sind auch mit Schleusern gekommen. Komisch: „Simsar“ – Schleuser – das arabische Wort klingt beschönigend, es bedeutet eigentlich: Makler. Der deutsche Begriff kommt der wahren Bedeutung näher.

Ali: Über Tschechien und Polen sind sie gekommen, teils zu Fuß, stundenlang, durch den Wald, meine Frau und vier Kinder, das älteste vier, das jüngste ein Jahr alt, im November. Es war dunkel, es war kalt. Das war furchtbar für mich, dass ich sie das alleine machen lassen musste. Als er hier, Mohamad, in Berlin ankam, ist er drei Tage lang keinen Schritt mehr gelaufen!

Und heute?

Mohamad: Heute laufe ich sehr gerne! Aber das war furchtbar. Ich kann mich nur sehr dunkel daran erinnern, aber mir wurde ja später viel erzählt. Meine Mutter hat sich furchtbare Sorgen um uns Kinder gemacht.

Sind Sie alleine mit dem Schleuser durch den Wald gelaufen?

Ali: Nein, das war eine Gruppe von etwa 30 Leuten.

Ali und Mohamad Hajjaj

Der Vater: Ali Hajjaj, 1958 im Lager für palästinensische Flüchtlinge Nahr al-Bared im Libanon geboren, kam im Sommer 1990 nach Deutschland. Im Irak hatte er arabische Literatur studiert, in Deutschland durfte er jahrelang nicht arbeiten. Ali Hajjaj hat acht Kinder. Mohamad ist das zweitälteste.

Der Sohn: Mohamad Hajjaj wurde 1986 ebenfalls in Nahr al-Bared geboren und kam im Herbst 1990 nach Berlin. Nach dem Abitur studierte er Jura mit dem Schwerpunkt Wirtschaftsrecht. Er arbeitet beim Netzwerk gegen Diskriminierung und Islamfeindlichkeit, ist Vorsitzender des Berliner Landesverbands des Zentralrats der Muslime und gehört der SPD an. Mohamad Hajjaj ist verheiratet und hat eine zwei Jahre alte Tochter. (akw)

Mohamad: Damals gab es für Palästinenser ein Schleusersystem, ähnlich wie heute für die Syrer.

Wie viel mussten Sie für die Schleuser bezahlen?

Ali: 10.000 D-Mark, 2.000 pro Person, das war normal. Verwandte in Berlin haben mir das Geld geliehen.

Wieso haben Sie kein Asyl bekommen?

Ali: Das weiß ich nicht. Aber ich habe dann 17 Jahre lang immer nur eine Duldung bekommen. Also nicht nur ich, sondern die ganze Familie.

Mohamad: Der Asylantrag war zwar abgelehnt, aber es gab keine Aufforderung zur Ausreise.

Ali: Wohin hätte man uns abschieben sollen? Wir waren ja auch keine libanesischen Staatsbürger.

Mohamed: Der Libanon hat sich gefreut über jeden Palästinenser, der weg war. Die Palästinenser werden dort nicht gut behandelt, viele Berufe sind ihnen verboten und sie dürfen außerhalb der Flüchtlingslager keinen Grundbesitz haben.

Was hat das für Sie und Ihre Familie bedeutet, hier nur geduldet zu sein?

Ali: Ich bekam keine Arbeitserlaubnis! Ich war damals 31 Jahre alt, und ich durfte 17 Jahre lang nicht arbeiten. Ich bin vier Mal im Jahr zum Arbeitsamt gegangen und habe gesagt, ich will Arbeit! Dort wurde mir dann gesagt: Geh zur Ausländerbehörde und bringe eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis. Und in der Ausländerbehörde hieß es: Bring uns einen Arbeitsvertrag, dann geben wir dir die Erlaubnis.

Mohamad: Das war ein Teufelskreis. Und mein Vater war ja ein relativ junger Mann, er hätte auch noch eine Ausbildung machen können. Das betraf damals nicht nur ihn, sondern Tausende junge Palästinenser, die nach Deutschland gekommen waren und hier dann einfach rumsitzen mussten.

Wie war das für Sie als Kinder, mit der Duldung zu leben und dass Ihr Vater nicht arbeitet?

Mohamad: Wir hatten ständig Angst, dass wir doch abgeschoben würden, einfach irgendwohin. Und es war schon komisch, wenn die Lehrer in der Schule fragten, was sind denn eure Eltern von Beruf – und wir konnten gar nichts sagen.

War das auch für Sie schwer, Ali?

Ali: Ja, natürlich. Aber ich habe meinen Kindern immer erklärt, warum ich keine Arbeit habe und dass ich gerne arbeiten würde.

Mohamad: Für uns Kinder tauchte das erste richtige Problem auf, als mein älterer Bruder und ich das Abitur gemacht hatten. Denn mit der Duldung durften wir nicht studieren. Auf unseren Papieren stand ausdrücklich drauf: Aufnahme eines Studiums nicht gestattet. Damit haben uns alle Universitäten, an denen wir uns beworben haben, abgelehnt. Wir waren beide ziemlich gut in der Schule und haben die Ausländerbehörde irgendwann überzeugen können, dieses Verbot für uns aufzuheben. Auch Freunde haben sich für uns eingesetzt, zum Beispiel Raed Saleh, der damals schon für die SPD im Abgeordnetenhaus saß. Dann wurde das Verbot auf der Duldung irgendwann tatsächlich einfach durchgestrichen.

Aber die Duldung blieb dennoch?

Mohamad: Ja, erst mal.

Ali: Meine Frau und ich hatten hier noch vier weitere Kinder bekommen, die sind quasi in die Duldung hineingeboren worden.

Mohamad: Ich habe dann irgendwann einfach einen Brief an die Ausländerbehörde geschrieben, dass ich gut in der Schule war und nun auch im Jurastudium gute Erfolge hätte, und ob sie mir nicht einen unbefristeten Aufenthaltsstatus geben können. Und das haben sie 2008 dann tatsächlich getan: Ich kam von einer Duldung direkt in eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis, eigentlich unmöglich. Mittlerweile bin ich Deutscher: Ich habe dann kurze Zeit später den deutschen Pass beantragt und ihn nach ein paar Monaten auch bekommen.

Und Sie?

Ali: Meine Frau und ich sind immer noch staatenlos, aber wir bekommen seit 2008 immer eine Aufenthaltserlaubnis für drei Jahre. Das ist auf jeden Fall besser. Früher musste ich alle sechs Monate mit der ganzen Familie zur Ausländerbehörde.

Wie haben Sie Ihre Zeit verbracht in den Jahren, als Sie nicht arbeiten durften?

„Es war komisch, wenn Lehrer fragten, was sind die Eltern von Beruf, und ich konnte nichts sagen“

Mohamad Hajjaj

Ali: Ich habe eine große Familie, acht Kinder. Meine Frau und ich haben uns gut um sie gekümmert. Und in Berlin leben viele Verwandte von uns und ehemalige Nachbarn und Freunde aus dem Flüchtlingslager im Libanon, aber auch aus unserem früheren Dorf in Palästina. Wir haben zwei Vereine, in denen wir uns treffen und Kontakt halten. Und eins war ja immer klar: Es gab für uns keine andere Perspektive, als unser Leben hier fortzusetzen. Hier hatten wir Frieden und ökonomische und politische Sicherheit – ein Leben ohne Verfolgung, ein besseres Leben für unsere Kinder.

Mohamad: Mein Vater hat sich sehr um unsere Bildung bemüht. Wir sind alle auf das Gymnasium gegangen. Das war ihm sehr wichtig. Und er hat uns Jungen auch beigebracht und vorgemacht, zu Hause mitzuhelfen. Ich bin heute ein sehr guter Hausmann!

Das entspricht nicht dem Bild, dass viele hier von arabischen Familien haben.

Mohamad: Das ist leider wahr. Und, klar, es gibt die Kriminellen, Intensivtäter, oder auch extrem Religiöse. Solche gibt es auch in Familien in unserem Bekanntenkreis. Aber das sind doch total wenige, eine Minderheit. Wir sind der Mainstream. Aber die anderen sind für die Öffentlichkeit vielleicht interessanter, und für die Politik besser, um den Menschen Angst zu machen. Wir sind zu normal.

Haben Sie sich Sorgen gemacht, als Ihr Sohn anfing, in Moscheen zu gehen, dass er irgendwann auch einen langen Bart hat?

Ali: Nein. Man muss auf die Kinder achtgeben und sich gut um sie kümmern, dann passiert das nicht. Und ihnen ein richtiges Verständnis von Religion vermitteln.

Und das wäre?

Ali: Religion als Motivation, etwas Positives für die Gesellschaft zu leisten.

Mohamad: Ich habe angefangen, in die Moschee zu gehen, als ich so in der 7. Klasse war, da hat mich ein Freund gefragt, ob ich nicht mal mitkommen möchte. Da gab es so einen Jugendkreis, auf Deutsch, und das hat mir gut gefallen.

Ihr Vater ist nie mit Ihnen in die Moschee gegangen?

Mohamad: Nein, nie. Ich kannte das nicht. Aber heute sind auch meine Brüdern und Schwestern gläubig.

Hat das etwas mit Deutschland zu tun? Damit, dass Sie hier aufgewachsen sind?

Mohamad: Ich glaube, bei uns nicht. Ich kann mir vorstellen, dass Menschen hier religiös werden aufgrund bestimmter Ausgrenzungserfahrungen, die sie als Einwanderer hier gemacht haben. Das erlebe ich auch in meinem Job im Netzwerk gegen Diskriminierung und Islamfeindlichkeit.

Haben Sie solche Erfahrungen nicht?

Mohamad: Oh doch! Schon in dem Flüchtlingsheim, wo wir lebten, als ich Kind war, habe ich Diskriminierung erlebt. Da gab es Ausgangssperren, weil wir nach einer bestimmten Uhrzeit nicht mehr rausgehen sollten. Und wer doch nach 19 Uhr kam, wurde dann nicht mehr reingelassen. Das war eigentlich rechtswidrig.

Heute engagieren Sie sich in muslimischen Organisationen, viele muslimische Einwandererkinder Ihrer Generation betrachten sich als deutsche Muslime. Wie wichtig sind Ihnen Ihre Wurzeln, die Herkunft Ihrer Eltern?

Mohamad: Ich sehe mich als deutscher Muslim mit palästinensischen Wurzeln. Wenn ich mit älteren Palästinensern Arabisch rede, hören die sofort, dass ich von hier bin.

Ali Hajjaj über die Flucht seiner Frau und Kinder: Über Tschechien und Polen sind sie gekommen, teils zu Fuß, stundenlang, durch den Wald. Es war furchtbar für mich, dass sie das alleine machen mussten. Als Mohamad in Berlin ankam, ist er drei Tage lang keinen Schritt mehr gelaufen!

Spricht Mohamad gut Arabisch?

Ali: Ja, aber nicht hundertprozentig.

Und wie finden Sie das, wenn er sagt: Ich bin deutscher Muslim?

Ali: Das finde ich okay, kein Problem! Aber dass meine acht Kinder Deutsche sind und ich habe bis heute kein Land, das ist komisch. Ich bin jetzt seit 27 Jahren in Deutschland und hatte nie eine Aufenthaltserlaubnis für mehr als drei Jahre. Ich habe hier einen Integrationskurs besucht und einen B1-Kurs in Deutsch abgeschlossen. Ich bin jetzt 58 Jahre alt, und ich habe seit Jahrzehnten nicht arbeiten dürfen.

Jetzt dürften Sie ja arbeiten.

Ali: Ja, aber jetzt will mich keiner mehr: Wenn ich mich bewerbe, heißt es, ich sei zu alt und außerdem hätte ich zu lange nicht gearbeitet.

Viele Flüchtlinge aus Syrien, die jetzt nach Deutschland kommen, erhalten sofort Deutschkurse und mit der Anerkennung ihres Asylantrags eine dreijährige Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis. Sind Sie sauer, wenn Sie das damit vergleichen, wie man mit Ihnen umgegangen ist?

Ali: Nein, es ist gut, dass es jetzt so gemacht wird. Aber man sollte besser auswählen, wen man ins Land lässt. Es kommen jetzt auch viele schwarze Schafe, die das nur ausnutzen und die gar keine Syrer sind. Wir sollten ein Auswahlsystem wie Kanada haben.

Mohamad: Du meinst, Deutschland soll ein paar auswählen und die anderen einfach wieder zurückschicken?

Ali: So ist das Leben! Deutschland soll nur die aufnehmen, die es brauchen kann!

Mohamad: Ja, politisch sind wir nicht immer einer Meinung.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen