Sitten des liberalen Wohnungsmarkts

GENTRIFIZIERUNG Von den Problemen des Wohnens und über eine Zwangsräumung mit Todesfolge

Die Möbel sind schon lange raus: Berlin, Kreuzberg, 2017 Foto: Gabriele Goettle

VON Gabriele Goettle

Margit Englert, Diplom-Biochemikerin. Sie wurde 1969 in Berlin geboren, ist ledig und kinderlos. Ihr Vater war Techniker und arbeitete im Betrieb ihres Großvaters, ebenso ihre Mutter, die von Beruf Technische Zeichnerin war. Aufgewachsen ist Englert in Westberlin, nach Schule und Abi­tur Studium an der TU Berlin, 1987 mit Diplom beendet. Ein Jahr wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU. Politische Betätigung (im Themenbereich chemische Kampfstoffe, Rüstungsproduktion). Arbeitete dann bei der Historikerin Karin Hausen an ihrer Dissertation, konnte diese aber aus persönlichen Gründen nicht beenden. Es folgten diverse freie Brotjobs auf der Basis ihrer biochemischen Ausbildung. War eine Zeit lang beim DGB-Bildungswerk, und auch beim Schering-Aktionsnetzwerk von Henry Mathews (Dachverband der kritischen Aktionärinnen und Aktionäre). Allmählich kam das Thema Wohnen dazu, Gründung verschiedener eigener Initiativen, vorübergehend Mitarbeit im „Bündnis Zwangsräumung verhindern“. Dort lernte sie Rosemarie F. kennen, deren Zwangsräumung bevorstand. Nach deren Exmittierung und dem darauf folgenden Herztod, schrieb sie ein Buch über die brutalen Vorgänge: „Rosemarie F. Kein Skandal.“ (Edition Assemblage, Münster 2015).

Wer in Deutschland Vermögen hat und es in Immobilien anlegt, kann viel Geld verdienen, ohne großen Einsatz. Wer in Deutschland über wenig Geld verfügt, hat alle Chancen, immer ärmer zu werden und auch noch sein Letztes zu verlieren, seine Wohnung – besser gesagt, sein Obdach, oder sogar sein Leben. Am 1. Dezember 2015 berichtete die Bild-Zeitung: „Erfurt – Todesdrama mitten in Erfurt! SEK-Beamte stürmen eine Wohnung. Schüsse fallen, am Ende liegt der Mieter (48) blutend am Boden. Er stirbt wenig später im Krankenhaus (…).“

Das Haus soll saniert werden, Hans-Jürgen S. ist im Erdgeschoss der letzte Mieter. Ihm ist bereits gekündigt worden, die Zwangsräumung steht unmittelbar bevor. (Er soll sich verbarrikadiert haben.) „Das SEK rückte mit einem Großaufgebot an. Mehrere Schüsse fallen, eine Blendgranate blitzt in der Wohnung auf. Hans-Jürgen S. sinkt getroffen zu Boden.“ (Er soll einen Polizisten tätlich angegriffen haben.)

Jährlich mehr als 30.000 Zwangsräumungen

Ältere Menschen, Familien mit Kindern und Arbeitslose haben dem Druck durch steigende Preise, durch steigende Mieten und Umwandlung von Wohnungen in Eigentum, wenig entgegenzusetzen. Es gibt deutschlandweit jährlich weit über 30.000 Zwangsräumungen. In vielen Fällen ziehen die bedrohten Mieter schon während der Räumungsklage aus. Offizielle Zahlen gibt es nicht. Es wird von Psychologen davon ausgegangen, dass der Verlust der Wohnung dem Tod eines nahen Angehörigen gleich kommt. Es gibt nach Schätzungen mindestens 350.000 Obdachlose in Deutschland. Für ihren Schutz wird so gut wie nichts unternommen. Während die Reichen automatisch ständig reicher werden, steigt dementsprechend die Zahl der Armen und Verarmenden. 16,5 Millionen Menschen sind in diesem reichen Land von Armut bedroht, jeder fünfte Bundesbürger. Mehr als eine Million nimmt regelmäßig das Essensangebot der Tafeln in Anspruch, Tendenz steigend. Der Landesverband der Tafeln verzeichnet für Berlin und Brandenburg ebenfalls einen kräftigen Zuwachs an Bedürftigen , Tausende stehen täglich Schlange an den Essensausgabestellen.

Eine Zumutung, die Höhe der Kapitalertragssteuer

Die Damen und Herren des Establishments klagen derweil über die Höhe der Kapitalertragssteuer (lediglich 25 Prozent) und andere Zumutungen. Und ich weiß nicht, durch welche Potemkin’sche Dörfer unsere Politiker in ihren Dienstwagen gefahren werden von A nach B, denn sonst würden sie unter den U- und S-Bahn-Brücken der Stadt die Obdachlosen liegen sehen. Sie reagieren auf die katastrophale soziale Entwicklung der Gesellschaft mit Wahrnehmungsstörungen beziehungsweise mit Wahrnehmungsverweigerung. Und mit hartem Durchgreifen, gegen all jene, die ihnen Widerstand entgegensetzen. In diesem Kontext ist auch das „Zurückgetretenwerden“ des kritischen Stadtsoziologen und eben ernannten Berliner Staatssekretärs für Wohnen, Andrej Holm, zu sehen. Er hat zwar einen Stasi-Makel, schlimmer aber ist, er hat ein Sakrileg begangen: Seine Stadtentwicklungspläne ­störten die Renditeerwartungen. Margit Englert engagiert sich innerhalb von stadt- und mietenpolitischen Aktivitäten. Sie bewohnt in einem der stark betroffenen Bezirke Berlins eine Neubauwohnung. Das Gebäude gehört einer Genossenschaft, in die sie vor vielen Jahren eingetreten ist. Bis jetzt hatte sie Glück, noch scheint ihre Miete erschwinglich zu bleiben. Elisabeth Kmölniger und ich werden herzlich willkommen geheißen. Die Freundin unserer Gastgeberin hat einen Kuchen gebacken, Tee wird eingeschenkt, dann beginnt Frau Englert zu erzählen:

„Anfangs gab es das Thema Wohnen für mich eher am Rande. Ich nahm es natürlich wahr, schon durch die vielen Hausbesetzungen damals, auch durch Freunde und im Bekanntenkreis. Aber es war für mich erst mal nicht so das zentrale politische Problem. Ich wohnte seit 1983 am Kottbusser Damm in einem normalen Mietshaus und natürlich haben wir mit unserem Vermieter Streit. Wir haben dann so ein bisschen Beratung gemacht im Haus, haben versucht, Schwerpunkte zu bilden in den Häusern.

Unser Vermieter war wie aus dem Bilderbuch. Er kam ab und zu mit seinem Jaguar, parkte quer auf dem Bürgersteig und stand dann mit seiner 1.000 Euro teuren Lederjacke vor unserer Tür oder vor der einer anderen Mietpartei und hat sein Leid geklagt, seine schweres Leben als Eigentümer geschildert. Also für uns, die wir aus der Uni kamen, bewegte sich das alles noch irgendwo auf der Scherz­ebene, für die anderen im Haus eher nicht. Die erste Zwangsräumung habe ich dann 1987 mitbekommen. Wir hatten ja damals –ab Mitte der Siebziger und in den Achtzigern in Westberlin eine Wohnungsnot. Betroffen war eine deutsche Familie in der Nebenwohnung. Ich hatte zu den Kindern einen sehr engen Kontakt. 1986 wurde das sechste Kind geboren. Die Wohnung hatte 40 Quadratmeter. Und man kann sich vorstellen, 40 Quadratmeter, sechs Kinder und zwei Erwachsene, da entsteht Stress. Außerdem gibt es rechtliche Regelungen, was Überbelegung betrifft. Damals galt 4½ Quadratmeter für ein Kind und 9 Quadratmeter für einen Erwachsenen.“ (Heute sind es 10 Quadratmeter für Erwachsene, 6 Quadratmeter für Kinder. Anm. G. G.). „Wenn pro Person weniger Wohnraum zur Verfügung steht, gilt das als Überbelegung und der Vermieter hat das Recht zu kündigen. Ich hatte besonders zu zwei Kindern eine gute Beziehung, die waren viel bei mir. Ich hatte so eine Spielecke eingerichtet, sie haben auch oft übernachtet bei mir.

Quatsch auf dem Frage­bogen der Volkszählung

Zu dieser Zeit war gerade die Volkszählung und meine Freundinnen und ich haben irgend welchen Quatsch in den Fragebogen eingetragen. Aber die Familie neben mir hatte richtig Angst, sie haben sich versteckt und so getan, als seien sie nicht da. Am Ende mussten sie aber doch ausfüllen, es gab damals massive Drohungen gegen Verweigerer. Jedenfalls bekam die Familie die Kündigung wegen Überbelegung und es kam zur Zwangsräumung. Die Familie wurde dann in einem Gebäude, einem Hotel einquartiert, das der Besitzer für solche Fälle an den Bezirk vermietete. Mein Kontakt zu dieser Familie blieb noch jahrelang erhalten.

Es gibt ja zunehmend heute diese ,innere Gentrifizierung' ein Begriff, den Andrej Holm auch an der Berliner Humboldt-Universität in seiner wissenschaftlichen Studie zu Zwangsräumung verwendet.“ („Zwangsräumungen und Krise des Hilfesystems. Eine Fallstudie in Berlin. Laura Berner, Inga Jensen, Andrej Holm“, Anm. G. G.) „Mit diesem Begriff ist gemeint, dass Leute, die ihre Mieten nicht mehr bezahlen können, ihre Wohnungen aufgeben müssen und zusammenrücken, damit sie nicht aus der Stadt rausmüssen und in ihrem Kiez bleiben können. Hier stehen genügend Interessentinnen und Interessenten Schlange, die mühelos die höhere geforderte Miete bezahlen können.

Drei Familien in einer Mietwohnung

Also Zusammenrücken, das betrifft nicht nur junge Leute, die wieder zu den Eltern ziehen, sondern auch ältere Leute oder ganze Familien. Das bedeutet auch, dass Überbelegung wieder ein Thema werden wird, so wie in den achtziger Jahren. Hier im Haus wohnt eine mit uns befreundete Sprachlehrerin, die kommt viel herum und sie erzählte, dass es inzwischen fast üblich ist, dass in einer Wohnung drei Familien leben.“ Elisabeth sagt: „Das erinnert stark an die Kommunalkas der Sowjet­union, die hier als vollkommen rückständig und menschenunwürdig galten. Also diese Verhältnisse führen wir jetzt bei uns ein.“ (Alle lachen.) „Gut, das war also ,meine erste Zwangsräumung‘ und das war diese Familie. Ich bin damals viel zu Veranstaltungen gegangen zu diesem Thema. Es gab dann nach der Wende die Hausbesetzerbewegung im Osten. In Prenzlauer Berg hatte sich der Zusammenschluss ,Wir bleiben alle' gegründet. Und ich habe gesehen, dass nach der Wende, um den Kollwitzplatz herum, quasi die gesamte Bevölkerung komplett ausgetauscht wurde. Ich mache jetzt mal einen Sprung in die nuller Jahre; da wurde es dann immer drückender, und da kam es dann bei mir eigentlich zu der Entscheidung, dass ich meine politischen Aktivitäten auf das Thema Wohnen konzentriert habe.

Die Mieten explodierten, der Druck auf die Leute hatte stark zugenommen, ganze Nachbarschaften sind kaputtgegangen, plötzlich waren Menschen weg, waren Geschäfte weg, es veränderte sich der gesamte Kiez. Ich habe versucht, mehrere Initiativen zu gründen, habe alles mögliche gemacht, und was ich so beobachten konnte, ist eben das, was ich über ,innere Gentrifizierung‘ sagte und wie es immer bedrückender wird. Es ­betrifft besonders die Transfer­leistungsempfängerinnen und -empfänger, die Mieten sind nach und nach über den Satz gestiegen, der als Sozialleistung fürs Wohnen übernommen wird. Den Mehrbetrag müssen sich die Leute dann abknapsen von ihrem Geld fürs Essen, für Kleidung usw. Und es verändern sich die Lebensgewohnheiten. Kinder etwa, die hier aufgewachsen sind, erwachsen wurden und normalerweise von zu Hause ausziehen und sich eine eigene Wohnung nehmen, wohnen weiterhin bei den Eltern. Wo sollen sie denn hin? Und wenn die Mutter auf Hartz IV ist, wird ihr das Wohngeld gestrichen, wenn das Kind auszieht. Unter Umständen auch gleich ihre Wohnung, wenn sie größer ist als 50 Quadratmeter. Als ,angemessen' gelten 50 Quadratmeter für eine Person, 60 Quadratmeter für zwei Personen. Wer diese Größe überschreitet, muss umziehen in eine Wohnung vorgeschriebener Maximalgröße, die gibt es aber nicht. Also, das ist eine Katastrophe für alle Beteiligten. Das erwachsene Kind wird also zu Hause bleiben müssen!Und wenn man jetzt auch auf die Herkunftszusammensetzung schaut, so wird klar, dass viele von denen, die in den fünfziger Jahren als Arbeitskräfte nach Deutschland geholt wurden, heute in Altersarmut leben. Oft sind es Frauen, die übrig geblieben sind, das haben wir hier bei uns im Haus auch. Wenn ihnen ihre Wohnung zu teuer wird, dann ziehen sie zu Verwandten. Also alle rücken zusammen.

So um 2010, würde ich mal sagen, hatte der Druck noch weiter zugenommen, und gleichzeitig aber gab es so eine Aufbruchstimmung. 2011 war ja dann die große Mietendemo mit 6.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Wir haben hier Kiezrundgänge gemacht, hatten große Versammlungen mit vielen Menschen, die sich verschiedene Aktionen ausgedacht haben. Und dann kam ja 2012 die herrliche Aktion von Ali Gülbol und seiner Familie. Das Haus, in dem er wohnte, war verkauft worden und der neue Eigentümer klagte einen Mieter nach dem anderen mit Scheinbegründungen raus, um nach minimaler Sanierung seine Wohnungen teurer vermieten zu können. Ali Gülbol hat sich an seine Nachbarn gewandt und gesagt: He! Man will uns räumen, kommt mal alle zusammen! Also die haben das nicht verborgen vor den Nachbarn, dass sie zwangsgeräumt werden sollen, sondern sie haben die Nachbarn alarmiert! Und das ist geglückt, weil die Nachbarschaft solidarisch war und bereit, sich als Blockade gegen Polizei und Gerichtsvollzieher vor die Tür zusetzen.

Das war die erste Zwangsräumung, die so bekannt wurde, weil sie nicht als ,privates Schicksal‘ unsichtbar geblieben ist. Als die Gerichtsvollzieherin kam, saßen 120 Leute vor der Tür. Sie konnte nicht ins Haus zu ihrer Amtshandlung und ist wieder gegangen. Und das fand ich toll, denn hier stand keine Organisation dahinter, sondern das waren Mieterinnen und Mieter aus der Nachbarschaft. Beim nächsten Termin allerdings wurde Herrn Gülbols Familie dennoch geräumt. Der Vermieter bot danach die 700 Euro teure Wohnung für 1.400 Euro an, die Interessenten – drei Studenten – sprangen aber ab, als sie durch die Nachbarschaft von der Zwangsräumung erfuhren. Das zeigt, dass wir auch dafür sorgen müssen, dass das Image einer zwangsgeräumten Wohnung in der Öffentlichkeit so schlecht wie möglich gemacht wird. So dass keiner eine solche Wohnung eigentlich bewohnen möchte.

Starke Bewegung gegen Exmittierungen

Bereits in den zwanziger und dreißiger Jahren gab es schon einmal eine starke Bewegung gegen Exmittierungen. Es war eine breite Bewegung. Anfang 1933 gab es in Berlin 1.000 Mieterinnen- und Mieterräte. Die Leute wurden einfach zusammengerufen zu spontanen Aktionen. Das ging auch ohne Internet, man brauchte nur rausgehen, die Leute waren ja alle da! Und so ist es auch heute noch. Diese Bewegung ist dann natürlich nach 1933 zerschlagen worden. Ich wollte nur sagen, die spontane Versammlung der Nachbarschaft für Ali Gülbol, mehr als 80 Jahre später, war wie ein Neuanfang. Bei dieser Gelegenheit hat sich dann das ,Bündnis Zwangsräumen verhindern!' gebildet. Ich hatte zwar damals gerade eine Initiative gegründet, bin dann aber zum Bündnis gegangen, weil ich dachte, wunderbar, es wird zum Ausgangspunkt, zum Kristallisationspunkt für eine breite Bewegung. Man kann an die Geschichte der Bewegungen anknüpfen und manche Organisationsformen übernehmen. Allmählich aber musste ich feststellen, dass was schieflief. Beispielsweise hat das Bündnis andere Gruppen als Konkurrenz angesehen, statt sich zu freuen, dass die Basis sich verbreitert. Und es tut mir heute noch leid, dass ich, oder wir, den Fehler gemacht haben, die andere Gruppe fallen zu lassen. Ja, das Bündnis hat tolle Organisationsformen entwickelt und praktiziert sie, hat eine Drohkulisse aufgebaut, macht Sitzblockaden, Rundgänge und die Teilnahme an Gerichtsverhandlungen, ist alles sehr gut. Aber meine Hoffnung, dass das Bündnis zur Ausgangsbasis für eine breite Bewegung wird, hat sich nicht erfüllt. Es war von starken Stimmen im Bündnis nicht gewollt. Schon als dann Rosi F. kam – ich werde gleich von ihr erzählen –, hat sich alles verengt, man konzentrierte sich lieber auf medienwirksame Skandalfälle und versuchte durch die Skandalisierung von Einzelfällen eine Veränderung des gesellschaftlichen Diskurses zu erreichen.

Ich denke, es war ein Fehler, dass man die Aufbruchstimmung, die vorhanden war bei Ali Gülbol, nicht ausreichend genutzt hat, nicht daran gearbeitet hat, dass die Bewegung in die Breite geht. Mitte 2013 sind einige Leute deshalb aus dem Bündnis rausgegangen. Auch ich, bald nach dem Tod von Rosemarie F. Ich habe dann das Buch verfasst, Rosemarie hat uns ja ihre ganzen Unterlagen gegeben, zwei dicke Leitz-Ordner mit Briefwechseln, Behördenschreiben, Urteilen. Es war wie ein Vermächtnis. Ich habe Rosemarie, wie gesagt, im ,Bündnis Zwangsräumung verhindern!‘ kennen gelernt. Sie hatte sich hilfesuchend ans Bündnis gewandt. Anfangs war alles gut, dann aber zeigte man immer weniger Geduld und Einfühlungsvermögen gegenüber den sicherlich oft ausufernden Ausführungen dieser bedrängten und vollkommen überforderten Frau. Man nahm sie nicht mehr so richtig ernst, das merkte sie natürlich. Ich erzähle mal zusammenfassend ihre Geschichte:

Rosemarie hat über ein Jahr um ihre Wohnung gekämpft. Am 27. Februar 2013 hatte sie einen ersten Zwangsräumungstermin, der wurde aber im allerletzten Moment vom Amtsgericht aufgrund einer Eingabe von Rosemaries Anwalt ausgesetzt. Gerichtsvollzieherin, Amtsarzt, sozialpsychiatrischer Dienst, Schlosser, Rosemaries Anwalt und die Wohnungseigentümerin standen bereits in der geöffneten Wohnung, die Schlösser waren ausgetauscht, als die Nachricht kam. Beim nächsten Räumungstermin, am 9. April 2013 um 9 Uhr vormittags wurde es ernst. Die Zwangsräumung fand statt, trotz Demo. Eingaben und Atteste wegen ihrer Herzkrankheit waren vom Gericht verworfen worden. Zwei Tage später, am 11. April 2013, starb Rosemarie 67-jährig in der Kleiderkammer einer Wärmestube für Obdachlose im Wedding. Dort hatte man ihr einen provisorischen Schlafplatz eingerichtet, am Tag darauf sollte ein Zimmer frei werden.

Aufkleber im Stil der 1920er Jahre, Berlin-Friedrichshain, Boxhagener Platz Foto: Gabriele Goettle

Gewaltsamer Entzug der Wohnung ist tödlich

Rosemarie ist kein Einzelschicksal. Der gewaltsame Entzug der Wohnung tötet. Früher oder später. Wie viele der Betroffenen war sie mittellos, Empfängerin von Sozialleistungen, war Frau, alleinstehend, alt, zudem auch noch zu 100 Prozent schwerbehindert (sie ging wegen einer Rückgratverletzung an zwei Krücken, war schwer herzkrank und Schmerzpatientin). Rosemarie wohnte seit 2001 allein in einer Zweizimmerwohnung innerhalb einer der großen Wohnhausanlagen aus den zwanziger Jahren im Berliner Bezirk Reinickendorf. Die 53 Quadratmeter große Wohnung kostete zuletzt 336,29 Euro brutto kalt. Rosemaries Altersrente lag mit 250 Euro weit unter dem Existenzminimum, so dass sie ergänzende Grundsicherung in Anspruch nehmen musste.

Das Grundsicherungsamt zahlte ihr das Wohngeld für die Warmmiete, sie wurde vom Amt direkt an die wechselnden Vermieterinnen und Vermieter überwiesen. Dann aber, 2012, stellte das Grundsicherungsamt die Zahlungen komplett ein. Angeblich wegen bürokratischer Schwierigkeiten aufgrund des Vermieterwechsels, wovon die Mieterin der Wohnung aber nichts wusste. Trotz der Direktüberweisung blieb Rosemarie zwar Mieterin ihrer Wohnung im rechtlichen Sinne, als handelnde Vertragspartnerin war sie jedoch ausgeschaltet. Dennoch muss sie die Konsequenzen des Behördenversagens alleine tragen. Das Amt jedenfalls lieferte der Vermieterin einen juristisch astreinen Kündigungsgrund. Nach dem Mietrecht kann eine fristlose Kündigung bereits bei einem Rückstand von einer Monatsmiete plus 1 Cent erfolgen. Früher waren es, glaube ich, zwei Monate. In seiner Studie über Zwangsräumung hat Andrej Holm etwa nachgewiesen, durch Interviews mit Job-Center-MitarbeiterInnen, dass Job-Center in vielen Fällen für Wohnungsverluste und Zwangsräumungen verantwortlich sind. Und es ist besonders perfide, wenn sich genau die Behörden, deren Aufgabe es ist, Sozialleistungen zu erbringen, sich stattdessen sozusagen ,an der Entmietung beteiligen', indem sie Zahlungen nicht oder nicht rechtzeitig erbringen.

Ein Viertel aller Jobcenter-Unterlagen verschwinden

Der Sozialrechtler Harald Thomé hat mal geschätzt – und er muss es wissen –, dass 25 Prozent der Unterlagen in den Job-Centern ,verschwinden‘. Und das ist vermutlich beim Grundsicherungsamt nicht viel anders. Erst Monate später, am 15. März 2013, schrieb ihr Anwalt, dass Rosemarie wieder Grundsicherung erhält. ,Das Geld vom Sozialamt wird an mich überwiesen. Hiervon wird die Miete weitergeleitet an die Vermieterin.' Voraussetzungen für die Bezahlung der Miete lagen offensichtlich die ganze Zeit über vor, sonst hätte der Anwalt beim Amt nicht erreichen können, dass widerstandslos rückwirkend für den gesamten Zeitraum das Geld gezahlt wurde. Aber obwohl er die vom Amt geschuldete Miete sofort überwies an die Wohnungseigentümerin, ließ sie nicht locker mit ihrem Wunsch, diese Mieterin loszuwerden. Sie hatte den Räumungstitel längst in der Hand und war entschlossen, ihn durchzusetzen. Der ,Fall Rosemarie F.‘ hat Schlagzeilen gemacht. Es gab eine infame Beeinflussung der öffentlichen Meinung. Die Eigentümerin der Wohnung und mit ihr große Teile der Presse haben sich nach Kräften bemüht, Rosemarie als Extremfall darzustellen. Vorwürfe, Diffamierungen und Gerüchte über Konflikte im Haus wurden ungeprüft übernommen und zum Teil genüsslich wiedergekäut.

Pfandflaschensammeln am Gesundbrunnencenter

Da war die Rede davon, Rosemarie sei unsauber gewesen, hätte Nachbarn belästigt und bedroht, hätte im Haus Zerstörungen angerichtet. Besonders perfide die Bemerkung einer Journalistin im Tagesspiegel, Rosemarie habe ,täglich am Gesundbrunnencenter Flaschen gesammelt'. Was sowohl die Tatsache ignorierte, dass das Grundsicherungsamt ihr monatelang kein Geld überwies, als auch nahelegt, dass mit ,solchen Leuten‘ kein langes Federlesen nötig ist. Das Motiv, Rosemarie sei kompliziert und eigensinnig gewesen, habe sich abgeschottet und niemanden an sich herangelassen, taucht in der Berichterstattung oft auf und dient dazu, das Problem zu relativieren und ins Private zu verlegen, der Betroffenen die Schuld zuzuschieben. Der Fokus richtete sich also immer wieder auf die Person Rosemaries und ignorierte vollkommen die gesellschaftlichen Zusammenhänge. Ein völliger Gegensatz also zu dem, was das Bündnis mit seiner Pressearbeit bezweckt hatte.

Und nun noch mein Resümee: Wie das Beispiel Rosemaries zeigt, wird dem Recht auf Verwertung des Eigentums Vorrang eingeräumt gegenüber der Gesundheit und im Extremfall sogar einem Menschenleben. Zwangsräumung ist ein existenziell bedrohlicher Eingriff, eine brutale Form der Enteignung derjenigen, die ohnehin schon nichts haben. Um dem und den Akteuren entgegenzutreten, braucht es eine möglichst breite, sich selbst reflektierende Bewegung mit einem großen Spektrum an Aktionsformen. Ob das nun Blockaden sind, Diskussionen am Rande von Gerichtsprozessen, gemeinsame Besichtigungen von Luxuswohnungen, Briefe, Mails, Telefonate, gemeinsame Gänge zum Jobcenter und Sozialamt, persönliche Gespräche an den unterschiedlichsten Orten mit den verschiedenen verantwortlichen Akteuren, Sit-ins, Flashmobs oder Wandzeitungen.“