Trauma Nach den Silvester-Übergriffen in Köln wurde ein taz-Blog initiiert, auf dem Frauen von sexueller Gewalt, vor allem auf dem Heimweg, berichten. Beim Lesen kommen unserer Autorin eigene Erlebnisse hoch: Mein Heimweg
von Lea Wagner(Text) und Stephanie Scholz(Illustrationen)
Ich bin neu bei der taz. Eine Kollegin bittet mich, den „Heimweg-Blog“ auszuwerten. Der Name sagt mir erstmal nichts. Entstanden ist der Blog als Reaktion auf die vorletzte Silvesternacht auf der Kölner Domplatte, als massenhaft Frauen sexueller Gewalt ausgesetzt waren. Plötzlich wurde sexualisierte Gewalt skandalisiert, wo sie doch sonst oft totgeschwiegen wird oder als Kavaliersdelikt gilt. Im Raum stand die Behauptung, dass die Ereignisse von Köln nur deshalb einen solchen Aufruhr verursachten, weil die übergriffigen Männer zum überwiegenden Teil Migranten, einige davon Flüchtlinge waren.
Auf dem neuen Blog berichteten zuerst nur taz-Mitarbeiterinnen von Erlebnissen auf ihrem Heimweg, bei denen sie sexualisierte Gewalt erfahren hatten. Schon die Anzahl betroffener KollegInnen und die Heftigkeit der beschriebenen Erlebnisse war schockierend – niemand hatte mit einer derart großen Resonanz gerechnet. Die Redaktion beschloss daraufhin, den Blog auch für Leserinnen zu öffnen. Nun wird er ein Jahr alt. 150 Personen, darunter auch ein paar Männer, haben sich geäußert.
Es ist nicht so, als würde mich das Thema nicht interessieren. Tut es. Als Feministin, als Frau, als Deutsche, die sich für Flüchtlinge engagiert. Allerdings ist zu Köln doch längst alles gesagt, denke ich. Und wenn nicht, dann bin ich nicht die richtige: Mit sexueller Belästigung oder Gewalt – was genau ist überhaupt der Unterschied? – habe ich keine Erfahrung. Denke ich. Heute bin ich schockiert über meine Ignoranz.
Keine Frage – Köln war schlimm. Aber genauso schlimm war das Danach. Ich habe mich über unsinnige Empfehlungen aufgeregt, wie die, dass Frauen eine Armlänge Abstand halten sollen. Und darüber, dass Frauen mal wieder zu Opfern gemacht wurden.
Aber am meisten hat mich der Rassismus vieler Kommentatoren gestört. Nach Köln war es plötzlich akzeptabel, Rassist zu sein. So nach dem Motto: Wir haben ja schon immer gewusst, dass der muslimische Mann Frauen als Objekt betrachtet. Es hat mich traurig gemacht, dass Köln für viele ein willkommener Anlass war, einen härteren Kurs in der Flüchtlingspolitik zu fordern.
Ich weigere mich, muslimischen Männern ein höheres sexuelles Gewaltpotenzial zuzusprechen. Auch wenn meine Erfahrung die ist: Nirgendwo habe ich mich als Frau so unsicher, so stark beobachtet und bedrängt und so sehr auf meine Sexualität reduziert gefühlt wie in arabischen Ländern, allen voran Ägypten und Tunesien.
In Kairo musste ich einmal abends durch eine Gruppe von sechs jungen Männern hindurch. Die Stimmung war seltsam, da waren Spannungen, die ich nicht greifen konnte, aber sehr deutlich wahrnahm. Ich fand mich albern in meiner Angst. Übervorsichtig. Was sollte mir schon passieren? Mein damaliger Freund lief vor mir.
Für die anderen Männer war er wie unsichtbar. Angefasst hat mich keiner. Aber von Kopf bis Fuß jeden Zentimeter meines Körpers vermessen. Mich abschätzig betrachtet. Mit Blicken ausgezogen. Diese Blicke empfand ich so verletzend wie eine Berührung. Warum, verstand ich nicht. Ich fühlte mich degradiert, irgendwie beschmutzt.
Mein Exfreund hat sich danach Vorwürfe gemacht, mich nicht besser beschützt zu haben. Wovor genau? Ausgerechnet er, der als Journalist drei Jahre in Ägypten gelebt und während der Unruhen live vom Tahrirplatz berichtet hat, wo er Zeuge vieler sexueller Übergriffe wurde. Die US-amerikanische Reporterin, die inmitten der Menschentraube vergewaltigt wurde, kannte er. Am Ende meines Aufenthalts besteht er darauf, mich um vier Uhr früh im Taxi zum Flughafen zu bringen. Übertrieben, denke ich. Alles andere ist zu gefährlich, sagt er. Insgeheim bin ich froh. Und hasse gleichzeitig das Gefühl, mich als Frau nicht frei bewegen zu können.
In Tunesien fühle ich mich genauso unwohl. Ich komme von einem Geschäftstermin und stehe minutenlang auf einer Kreuzung, ein Taxi suchend. Von allen Seiten werde ich begafft, Männer rufen mir Dinge zu, die ich nicht verstehe, begutachten mich wie eine Ware, schauen mich herausfordernd und gierig an, grinsen, hupen. Ich verfluche mich in dem Moment dafür, dass ich einen Rock trage. Lang ist er nicht, kurz auch nicht. Für meine blondierten Haare verfluche ich mich auch. Hätte ich ein Kopftuch tragen sollen?
Ich habe Angst, in ein Taxi zu steigen, offizielle Taxen gibt es nicht viele. Mein Taxifahrer textet mich voll, will plötzlich viel mehr Geld als abgesprochen, wird wütend, als ich mich weigere, schimpft auf Arabisch, fährt noch schneller, noch aggressiver. Dabei würde ich ihm sogar mehr Geld geben. Aus Angst. Aber ich habe kaum noch Bargeld. Als ich ihm das sage, bremst er abrupt und nimmt eine andere Route, wohin, weiß ich nicht. Oh Gott, jetzt entführt er mich, denke ich. Ich überlege, auf der Fahrt rauszuspringen, aber er fährt zu schnell. Vor einem Geldautomaten hält er an. Ich hebe den geforderten Betrag ab, bezahle, steige aber nicht mehr ein. Auch wenn ich nun in einem Industriegebiet stehe und nicht weiß, wie ich von hier wegkommen soll. Mir ist ganz komisch nach der Fahrt. Ich habe mich in meiner Würde verletzt, ausgeliefert, ohnmächtig gefühlt, obwohl er mich nicht angefasst hat.
Beide Ereignisse habe ich weggelegt, dabei waren es nicht nur zwei. In Kairo bin ich täglich angemacht, gedemütigt worden, auch am Hotelpool, von Gästen wie von Angestellten. Dabei war ich nicht im Bikini, schon mit Hosen bis zum Knie fühlte ich mich nackt.
Aus den Erlebnissen in Tunesien und Ägypten will ich nichts Größeres ableiten, mich nicht davon abhalten lassen, weiterhin in arabische Länder zu reisen, auch allein, mich mit arabischen Männern anzufreunden. Vielleicht lerne ich irgendwann Arabisch.
Dennoch denke ich nach beiden Aufenthalten, ein Glück, dass ich mich in Deutschland als Frau frei bewegen kann. Dass es egal ist, was ich anhabe. Dass es Gesetze gibt, die mich schützen. Und eine Gesellschaft, die die Rechte der Frau nicht tiefer als die des Mannes hängt.
Dann fange ich an, den „Heimweg-Blog“ zu lesen. Und bin schon nach wenigen Einträgen traurig und entsetzt. Ich solidarisiere mich mit den Autorinnen, bewundere ihren Mut: sich zu offenbaren und sich – in manchen Fällen – gewehrt zu haben. Die Parallelen zwischen den einzelnen Geschichten sind auffällig. Fast immer suchen die Betroffenen die Schuld bei sich. Fast immer fühlen sie sich im Moment der Tat wie versteinert, ihnen fehlt die Sprache, und danach machen sie sich Vorwürfe, geschwiegen zu haben. Oft leiden sie Jahre lang darunter, können erst viel später darüber sprechen, fantasieren, den Täter wiederzusehen, um ihn zur Rede zu stellen, ihn anzubrüllen. Sich ihre Würde zurückzunehmen.
Ich denke an Edvard Munchs „Der Schrei“. Ein Mund, weit geöffnet, aus dem jedoch nur Stille kommt. Viele Frauen, auch die, die nicht angefasst wurden, fühlen sich beschmutzt. Und fast alle beschreiben die fehlende Solidarität in der Nähe stehender Passanten – auch von Frauen –, die wegschauen und später behaupten, nichts mitbekommen zu haben.
Der Blog: Nach den Übergriffen in der Silvesternacht 2015 in Köln startete die taz.am wochenende einen Blog, auf dem Frauen berichteten, welche sexuellen Übergriffe sie erlebt haben: blogs.taz.de/heimweg/ Denn nicht nur Männer mit Migrationshintergrund, auch deutsche Männer nutzen sexuelle Gewalt, um Frauen zu demütigen, Macht zu demonstrieren, Frauen zu schaden. Es wurden fast 150 Beiträge online gestellt.
Die Abschlussveranstaltung: Der Heimweg-Blog wird mit einer öffentlichen Veranstaltung am Mittwoch, 1. Februar, um 19 Uhr im taz-Café zum Abschluss gebracht. Mithu Sanyal wird dabei aus ihrem Buch „Vergewaltigung“ lesen, Heimweg-Blog-Autorinnen und taz-Redakteurinnen werden mit ihr diskutieren. Bis Ende Februar können noch Beiträge an heimweg@taz.de geschickt werden, die wir nach Rücksprache online stellen.
Was mir noch auffällt: Wer den Mut aufbringt und anderen gleich nach dem Übergriff davon erzählt, dem wird oft nicht geglaubt. Oder das Erlebte wird verharmlost. Gerade Eltern, deren Kinder Opfer sexueller Belästigung wurden, neigen zur Verleugnung. Aus Hilflosigkeit und Schuldgefühlen heraus. Experten gehen davon aus, dass eine negative Reaktion auf das Sichoffenbaren, „Disclosure“ genannt, ein sekundäres Trauma auslösen kann. Und nicht selten dazu führt, dass das Erlebte wie eingefroren ist und vermeintlich vergessen wird.
Frustrierend ist für Opfer auch die geringe Aussicht auf Erfolg, wenn sie Übergriffe anzeigen. Nur selten werden Täter geschnappt. Manchmal bagatellisiert die Polizei solche Taten. Und manchmal können Täter mangels Beweisen nicht belangt werden. Die Reform des Sexualstrafrechts hat zu Verbesserungen geführt. Auch Grapschen, Antanzen, sogar ein Kuss wider Willen können nun bestraft werden.
Vielen geht die Reform nicht weit genug – zu Recht, wie ich finde. Denn die Beweislast liegt weiterhin auf der Seite des Opfers, und weiterhin muss es seinen Widerstand deutlich signalisiert haben. Dabei müsste das Gesetz weiter gehen: Sex sollte es nur nach einem ausdrücklichen Ja geben – wie beispielsweise an staatlichen Universitäten in Kalifornien vorgegeben.
Auf dem „Heimweg-Blog“ lese ich viele Einträge von Frauen, deren „Nein“ überhört wurde. Und die sich daraufhin Vorwürfe machen, ihr „Nein“ sei nicht laut genug gewesen, nicht vehement genug vorgetragen, nicht konsequent genug rübergebracht. Dass sie die Schuld bei sich suchen, macht mich traurig. Nachdem ich mich durch Dutzende von Blogeinträgen gearbeitet
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen