: Berührend menschlich
SEX AUF REZEPT Unsinn, Gift im Wahlkampf – viel Hohn erntete der Grünen-Vorschlag. Dabei ist die Idee gut und andernorts längst Praxis
von Simone Schmollack
Der Vorschlag bietet alle Schlagworte für eine süffisante Debatte: Sex, Geld, Krankheit, Prostitution, Alter. Und so ist es auch gekommen: Elisabeth Scharfenberg, pflegepolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, hat für ihren Vorschlag, Pflegebedürftige und Behinderte sollten das Recht auf staatlich bezahlte Sexualassistenz bekommen, heftige Kritik geerntet. Als „abwegig“ bezeichnete der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach die Idee. Wer „täglich mit dem Stuhlgang kämpfen muss“, habe andere Sorgen, erklärte Eugen Brysch, Chef der Stiftung Patientenschutz. Für Boris Palmer, Grünen-Querschläger und Oberbürgermeister von Tübingen, ist das ein „Gassenhauer“ im Wahlkampf – so wie einst der Veggie-Day und neuerdings die Unisextoiletten. Von staatlich subventionierter Prostitution ist die Rede und von „Menschenhandel auf Rezept“.
Mit solchen Vokabeln und Zuschreibungen wird ein ernst gemeinter Vorschlag belegt. Warum? Weil alles, was mit Sex jenseits der „Normalität“ zu tun hat, doch irgendwie bäh ist? Weil körperlich und geistig Behinderten, Alten und Pflegebedürftigen dieses Bedürfnis ganz selbstverständlich abgesprochen wird? Weil „Sex auf Krankenschein“ den grünen Wahlkampf stören könnte?
Millionen Männer in Deutschland, so besagen es Schätzungen, kaufen sich jeden Tag Sex – bei Prostituierten in Bordellen, auf der Straße, im Auto. Die meisten dieser Männer können laufen, sprechen, bezahlen, sie haben Stuhlgang und häufig eine Frau zu Hause. Sie gehen trotzdem zu Huren.
Gewiss, darüber kann man sich aufregen. Der entscheidende Unterschied aber zwischen den Freiern und jenen Menschen, die Scharfenberg im Blick hat, ist: Die Freier können in der Regel selbst entscheiden, ob, wie oft, mit wem und welchen Sex sie haben. Behinderte, Pflegebedürftige und Alte haben diese Möglichkeit in der Regel nicht. Viele sind in ihrer Mobilität, ihrem Aktionsradius, ihrer Beweglichkeit oder in ihren geistigen Fähigkeiten so eingeschränkt, dass sie sich Sex nicht auf eine angemessene Weise selber organisieren können. Dafür brauchen sie Hilfe. So, wie sie – je nach Grad ihrer Bedürftigkeit – Hilfe beim Anziehen, beim Sprechen, beim Essen und beim Stuhlgang benötigen.
Diese Hilfen gibt es, daran stört sich niemand, und sie werden sogar bezahlt, meistens jedenfalls. Nur beim „Geschmuddel untenrum“ wird die Nase gerümpft. Muss das sein? Einem Arbeitslosen ohne Partnerin, der keinen oder kaum Sex hat, wird schließlich auch kein Puffbesuch finanziert. Und warum soll das die Krankenkasse, also die Gesellschaft, bezahlen?
Was in Deutschland seit Jahrzehnten vor allem von Familien-, Gesundheits- und Sexualverbänden diskutiert wird, ist in den Niederlanden, der Schweiz und in England längst tägliche Praxis. Dort verhelfen speziell ausgebildete SexualassistentInnen Menschen mit Einschränkungen zu sexueller Erfüllung, mitunter zahlt der Staat einen Zuschuss. Das wird als Gesundheitsförderung angesehen und nicht als Prostitution.
Auch in Deutschland gibt es das bereits. In Berlin bietet die „Berührerin“ ihre Dienste an. In Trebel, einem kleinen Dorf im niedersächsischen Wendland, treffen sich Bedürftige mit männlichen und weiblichen SexualbegleiterInnen. Alle Seiten empfinden das, was sie da tun, als befreiende körperliche Dienstleistung.
Der Vorschlag ist kein „Abenteuer im Wahljahr“, der die Grünen als „weltfremde Spinner abstempeln“ könnte, wie Boris Palmer jammert. Im Gegenteil, die Grünen sollten sich für den Wahlkampf das Thema als Alleinstellungsmerkmal zunutze machen. Innere Sicherheit, Steuern, Klima machen alle. Aber Sex als Menschenrecht?
Nur das mit dem Rezept zulasten der Krankenkasse sollten die Grünen anders lösen. Sex hat – im Regelfall – nichts mit Krankheit zu tun. Und einen Zuschuss könnten auch die Kommune, das Jobcenter oder die Rentenkasse übernehmen.
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