: Allein gelassen
Jugendschutz Nach dem Anschlag auf einen Obdachlosen ist die Debatte um die angemessene Betreuung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge neu entfacht
von Uta Schleiermacher
Rund 340 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge werden derzeit nicht angemessen betreut, weil Plätze in der Jugendhilfe fehlen. Nach einem Clearingverfahren (siehe Kasten) sollten sie eigentlich von den Jugendämtern in Wohngruppen mit intensiver sozialpädagogischer Betreuung vermittelt werden. Stattdessen harren sie im Hostel oder Jugendgästehäusern aus, wo sie nicht optimal versorgt würden, wie auch die zuständige Senatsverwaltung für Jugend einräumt. Am Donnerstag befasste sich nun der Rat der Bürgermeister mit der Unterbringung, Versorgung und Betreuung von minderjährigen Asylsuchenden.
Das Problem ist nicht neu: Jugendhilfeträger hatten bereits im Herbst 2015 Alarm geschlagen und Unterstützung für neue Wohngruppenplätze und Weiterbildung für BetreuerInnen gefordert. Nun aber erhält es eine neue Brisanz. Denn nach dem versuchten Brandanschlag auf einen Obdachlosen vor zwei Wochen ist eine Gruppe von sieben Jugendlichen zwischen 15 und 21 Jahren tatverdächtig, unter ihnen auch vier unbegleitete Flüchtlinge.
„Das normale System der Jugendhilfe kommt an seine Grenze“, sagte Monika Herrmann (Grüne), Bezirksbürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg, nach dem Treffen des Rats der Bürgermeister. Es gäbe zu wenig therapeutische Unterstützungsmaßnahmen. Dies sei ein berlinweites Problem, da es aber nur knapp 3.000 Jugendliche beträfe, gerate es leicht aus dem Blickfeld.
Zumindest eine gute Idee
In Berlin leben rund 2.700 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Knapp 2.000 Jugendliche befinden sich bereits in der Verantwortung der Bezirks-Jugendämter. Von den 700 Jugendlichen, die in Obhut des Senats sind, warten rund 340 auf einen Platz in einer bezirklichen Einrichtung. Rund 360 haben das Clearingverfahren noch nicht durchlaufen. Darin stellt die Senatsverwaltung das Alter der Jugendlichen fest, prüft, ob Verwandte auffindbar sind und versucht herauszufinden, welche psychische, pädagogische und schulische Betreuung die Jugendlichen brauchen.(usch)
„Wenn wir über Probleme bei der Versorgung und Unterbringung reden, geht es vor allem um erwachsene Flüchtlinge und Familien. Wir brauchen analoge Anstrengungen für Jugendliche und junge Erwachsene“, so Herrmann. Das könnten Wohnprojekte speziell für jugendliche Flüchtlinge sein, die gleichzeitig anstrebten, die Jugendlichen in das normale Leben zu integrieren. Doch in ihrem Bezirk fände man kaum die Wohnungen dafür. „Im ersten Quartal sollten wir jetzt zumindest so weit kommen, dass wir eine gute Idee haben“, forderte Herrmann. Auch Reinhard Naumann (SPD), Bezirksbürgermeister von Charlottenburg-Wilmersdorf, sprach sich in einem RBB-Interview für eine intensivere Betreuung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen aus.
„Es ist verantwortungslos, dass die Zuständigen die Jugendlichen ohne adäquate Betreuung hängen lassen“, sagt Basel Allozy, der als Kinder- und Jugendpsychiater und Psychotherapeut und in dem von ihm gegründeten Verein Alkawakibi junge Flüchtlinge behandelt und betreut. „Minderjährige Schutzbefohlene brauchen Orientierungshilfe und Erziehung.“ Die Folgen könnten sowohl für die Jugendlichen als auch für die Gesellschaft schädlich sein. „Sie sind noch nicht reif genug, um sich zu steuern, viele probieren Alkohol, Drogen oder auch grenzüberschreitenden gewalttätige oder sexualisierte Handlungen aus.“ Er sehe die Gefahr, dass sich Vorfälle wie der verantwortungslose Angriff auf einen Obdachlosen wiederholen könnten. „Die Jugendlichen kommen mit großen Erwartungen und Sehnsüchten und einer positiven Einstellung hier her und werden dann durch Diskriminierung und Bürokratie enttäuscht“, sagte Allozy.
In der Hoffnung auf eine schnelle Familienzusammenführung entstehe in vielen Fällen der Eindruck, dass die Sicherheit ihrer Eltern und Geschwistern hier unwichtig seien. „Da können auch Hassgefühle und Fehlentwicklungen entstehen“, so der Therapeut. „Und dann verlieren wir die Jugendlichen. Eine gute Betreuung ist Schutz für die Minderjährigen und für die Gesellschaft.“
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