Die These

Wenn Deutschland wie Crottendorf wäre, wär’s ein besseres Land

Cool wie Crottendorf

von Jan Feddersen

Ist das Erzgebirge noch betretbar? Oder doch eher Vorhölle für all jene, die ihren Alltag in wuseligen, nervös stimmenden Orten wie Berlin verbringen? Voll multikulti – das ist doch so weit hinter Chemnitz ein Unding.

Oder?

Alles Lüge?

Stimmt denn, dass es in den deutschen Provinzen garstig und fies gegen Fremdes zugeht? Kann man sich trauen, in Dörfer zu reisen? Oder erlebt man dort Jagdszenen, als sei’s im Niederbayern, das der Dramatiker Martin Sperr beschrieb?

Nix davon. Man fährt in eine Landschaft, so schön wie eine angefrostete Toskana, angehügelt, lichterstark schon in der Dämmerung. Es ist still. Die Straßen sind leer.

Dann kommt Crottendorf: ein Flecken von knapp 4.000 Menschen, einige von ihnen neu und jüngst erst eingewandert. Ob sie sesshaft werden, hängt an den Männern und Frauen dieser Gemeinde zuallerletzt.

Jedes DDR-Kind kennt Crottendorf, diesen Ort mit Bergbautradition, mit Industrie­flecken im wirtschaftlichen Umfeld. Vor allem aber, weil dort die welttollsten Räuchermännchen hergestellt werden. Inzwischen sogar in essbarer Form, modisch als Schokokügelchen. Eine Gemeinde mit Industrie, Vollbeschäftigung, einem Skilift und Kleingärten. Eine Schule gibt es und einen Hort. Dazu viel Bereitschaft zur Heimwerkerei. Man hält auf Tradition, christliche Gemeinden geben den Ton an, auch eine pietistische, das Bild der guten Familie ist groß.

Crottendorf ist kein Idyll, war es nie. Einst gab es hier eine Nichtgrenze zur Tschechoslowakei, Tschechen und Sudetendeutsche waren Nachbarn, keine Bürger*innen aus verschiedenen Staaten. Aber Tschechisch unterrichtet hier niemand mehr an der Schule.

Da sein. Verschwinden

Momentan trauert Crottendorf. Und zwar um eine Familie, die neu hinzukam. Die aus dem Kosovo stammende Familie Kut­llovci wurde jüngst ausgewiesen. Es beschäftigt die Leute im Ort. Da sein. Verschwinden. – Als wären sie nie hier gewesen. Bürgermeister Sebastian Martin sagt: „Das war alles nach Recht und Gesetz.“ Er klingt wie ein heftig Bedauernder, der zwischen den Zeilen sagt: Dieses Recht sollte anders sein.

Der Sächsische Flüchtlingsrat hat die Meldung über die Abschiebung in alle Welt geschickt, eine dieser Meldungen, von denen es viele gibt. Hier in Crottendorf ist die Nachricht eine beklagenswerte Wirklichkeit. Denn die Kutllovcis waren, so sagen die Leute, integriert. Sie beteiligten sich am Leben der Gemeinde, waren höflich und freundlich; außerdem, nicht zu unterschätzen, konnten sie schon ziemlich gut Deutsch.

Der erst vor anderthalb Jahren gewählte Bürgermeister ist ein noch junger Mann, Mitte dreißig, Ingenieur, in Kiel hat er studiert, Schanghai und andere Fernen der Welt kennen gelernt – und doch zog es ihn nach Hause. Ins Überschaubare. Nach Crottendorf. Er sagt: Das Erste, was alle Flüchtlinge lernten, die vor einem Jahr kamen oder noch vor kürzerer Zeit: auf der Straße zu grüßen. Immer. „Guten Tag.“ „Glück auf.“ Dann gab es noch einige Bürgerversammlungen gegen die Angst vor den Fremden sowie die Einrichtung einer Kleiderkammer, die allerdings auch für alle offen ist, die es deutscherseits knapp auf der Naht haben. So lässt man aus dem Neid die Luft raus.

Als das alles geklärt war, als sogar einigen Anwohnern des Flüchtlingsheims eine Sichtmauer spendiert wurde, damit diese vom Gefühl befreit waren, beim Fensterputzen aus den Fenstern der einstigen Jugendherberge, die nun Flüchtlinge beherbergt, eventuell beguckt zu werden. Es soll Frieden sein im Land, im Dorf, und niemand soll das Gefühl bekommen, dass die Flüchtlinge über Gebühr gut behandelt werden. Jedenfalls nicht besser als die Missgünstigen. Aber, und darauf kommt es an, auch nicht schlecht. Sondern warm und sicher.

Insofern ist Crottendorf doch ein Stück Deutschland, das, schließlich und hoffentlich, gut ist. Hier werden keine großen Erzählungen gepflegt. Nichts von Überflutung, Heimsuchung, Angst und Furcht, Pest und Cholera. Wäre es überall in Deutschland wie in diesem Flecken im Erzgebirge, hätten die AfD, die Nazis, all die Petrys, Gaulands, Höckes und Pretzells vermutlich keine Chance. Sebastian Martin, der Bürgermeister, der es gegen alle Honoratioren am Ort und auf keiner Parteiliste stehend schaffte, voriges Jahr gewählt zu werden, findet, man löse die Probleme, wie sie kommen – und tut das so, dass allen Eingewöhnung und Verständnis ermöglicht wird.

Ankommen. Dazugehören

Als es aus Dresden, der Landeshauptstadt, hieß, auch Crottendorf bekomme Flüchtlinge zugeteilt, wurde nur gesagt: Okay, machen wir, wenn es denn so ist, aber schön wäre, wenn es Familien wären, keine alleinstehenden Männer. Vielleicht steckte in dem Wunsch nach besonderen Kontigenten auch das Wissen, dass junge Männer, unterbeschäftigt und also gelangweilt, eher zur Unruhe neigen als Frauen und Männer, die sich um Kinder zu kümmern haben.

In Crottendorf, nebenbei, ist noch niemand überfallen oder mit Sprüchen gedisst worden. Vor allem keine Flüchtlinge durch Nazis. Krakeeler, sagt man, gibt es überall, aber hier, im Schimmer der Straßenlaternen im Frühwinter, seien sie besonders randständig. Nur, dass man die Familie Kutllovci vermisst, jetzt. Ist doch so, sagt die Bäckersfrau, die feinen Stollen und echtes, nicht heißluftgeföntes Brot verkauft: Erst ist man sich fremd, aber dann lernt man sich kennen.

Cool sein in Berlin, der Welthauptstadt in Sachen Die-­Nerven-behalten-und-das-freie-Leben-weiter-führen, ist nicht immer einfach, aber doch eingeübt. Von Crottendorf wird das nicht erwartet. Warum eigentlich nicht? „Ja“, sagt Bürgermeister Martin, einige aus seiner Gemeinde waren schon in Dresden, bei Pegida, aber die zählen nicht für das große Ganze, die würden dieses Sprechen nicht selbst mitmachen. Andererseits hat man inzwischen einen Döner-Imbiss, der Mann sei in Ordnung, auch wenn man, so lässt man durchblicken, es unangemessen findet, dass seine Frau nicht so recht das Haus verlassen darf – um etwa im Vereins­leben mitzumachen. Man könnte sagen, meint er, es gibt im Dorf Wünsche nach den Fremden, aber manchmal geht es eben nicht so einfach.

Im Flüchtlingsheim ist derweil Vorweihnachtsfeier. Mädchen singen Lieder, heranwachsende Jungs spielen Billard und tun desinteressiert. In der Tür steht ein junger Mann, Heimbetreuerin Gabi Fritzsch sagt, er sei, nach dem Verlust der Familie Kutllovic, der neue Sprecher der Flüchtlinge, ein schmaler Mann mit modischer Brille aus Marokko. Und weil bald Weihnachten ist, beschleicht einen an diesem späten Nachmittag bei den zeitweiligen oder vielleicht gar bald sesshaften neuen Bürger*innen von Crottendorf das Gefühl, folgender Gedanke könnte eine heilende, weihnachtliche Anmutung sein: Hier kamen Menschen, die sich retteten – zu Menschen in einem Dorf, die sie nicht bedrohen. Das ist vorbildlich zu nennen, aber der junge Bürgermeister will das nicht, denn Crottendorf dürfe doch nichts Besonderes sein.

Jan Feddersen ist Redakteur für besondere Aufgaben in der taz.die tageszeitung. Er organisiert die Reihe taz.meinland