Weihnachtsstimmung muss sein: Zoë zündet auf dem großen Tisch in der Wohnküche des SOS-Kinderdorfs eine Kerze des Adventskranzes an

Eine andere Art von Zuhause

SOS-Kinderdorf I Die 2005 eröffnete Einrichtung in Moabit war das erste SOS-Kinderdorf in einer Großstadt. Hier leben in vier großen Wohnungen bis zu 24 Kinder und Jugendliche in familienähnlichen Strukturen zusammen

Zwei aus dem Moabiter SOS-Kinderdorf: Vilou (links) und Zoë

Von Uta Schleiermacher
(Text) und Erik-Jan Ouwerkerk (Fotos)

Samstag ist ein besonderer Tag im SOS-Kinderdorf in Moabit. Es ist der Tag in der Woche, den die meisten Kinder mit ihren Eltern oder einem Elternteil verbringen. Doch bevor sie abgeholt werden oder sich allein auf den Weg machen, sitzen sie beim gemeinsamen Frühstück an dem großen Holztisch in der Wohnküche.

Gute Gelegenheit, noch ein paar Sachen mit ihrer Kinderdorfmutter Christine Müller zu klären. „Kann Vilou heute wieder bei mir übernachten?“, fragt Vanessa. „Ja, bitte!“, sagt auch Vilou. „Mir wäre ja lieb, wenn das nicht immer hin und her geht“, wiegelt Kinderdorfmutter Christine Müller ab. „Aber ihr könnt die Matratze ja mal in deinem Zimmer liegen lassen, dann besprechen wir das heute Abend noch mal.“

Zoë, mit elf Jahren die Jüngste in Christine Müllers Gruppe, durfte sich heute morgen zum ersten Mal künstliche Nägel ankleben. So wie die Großen es ab und zu machen. Zoë greift nach einer Mandarine. „Christine, kannst du mir die Schale aufmachen?“, fragt sie. „Na, das kannst du doch eigentlich selbst?“, sagt Müller – um im nächsten Moment mit den anderen Mädchen in Lachen auszubrechen, als Zoë „Geht damit nicht“ sagt, und halb unsicher, halb belustigt grinsend mit ihren langen künstlichen Nägeln klimpert.

SOS-Kinderdorf ist eine internationale, nichtstaatliche Organisation, die in Deutschland als Verein insgesamt 16 Kinderdörfer betreibt. Weltweit gibt es über 550 Kinderdörfer.

SOS steht für „Societas Socialis“ – also „soziale Gemeinschaft“.

Gegründet wurden die SOS-Kinderdorfer 1949 in Österreich, um die zahlreichen Kriegswaisen mit einem geschützten Raum und einem Familienersatz zu versorgen. Dahinter stand der Gedanke, dass jedes Kind eine Mutter braucht und mit Geschwistern in einer dorfähnlichen, geschützten Umgebung aufwachsen soll.

Inzwischen ist der Leitspruch abgeändert zu der Grundvorstellung, dass jedes Kind eine Familie braucht. Es gibt allerdings aber immer noch mehr Kinderdorfmütter als -väter, in Berlin hat erst im Dezember der erste Kinderdorfvater angefangen.

Die meisten SOS-Kinderdörfer haben tatsächlich dorfähnliche Strukturen, in denen sechs bis zwölf Familien leben und die Häuser um einen zentralen Dorfplatz angeordnet sind.

Allerdings werden heute keine Waisenkinder mehr betreut, sondern Kinder, die aus den verschiedensten Gründen nicht mehr bei ihren leiblichen Eltern leben können. Die Zahl der tatsächlichen Waisenkinder ist heute anscheinend so gering, dass die Senatsverwaltung gar nicht mehr erfasst, Vollwaisen kommen meist bei Verwandten unter.

Die Organisation betreibt auch Kindertagesstätten, Familien­zentren, Schulen, Ausbildungsstätten und Werkstätten.

Neben SOS gibt es weitere Organisationen, die Kinderdörfer betreiben. In anderen Organisationen leben die Betreuer_innen teilweise fest mit den Kindern zusammen, in den Albert-Schweitzer-Kinderdörfern zum Beispiel betreut ein tatsächliches Paar die Kinder. (usch)

Vilou nimmt ihr die Mandarine ab, geübt öffnet sie mit Hilfe ihrer künstlichen Nägel die Schale. Und Vanessa verkündet, dass sie sich heute mit einem Freund treffen wird und erst gegen Abend nach Hause kommt. Sie geht in ihr Zimmer, um sich fertig zu machen.

Das Kinderdorf in Moabit, 2005 eröffnet, war das erste SOS-Kinderdorf in einer Großstadt. Vier Familien mit Platz für 24 Kinder leben hier, allerdings nicht in einer klassischen Dorfsituation wie es sonst typisch ist (siehe Kasten), sondern in großen Wohnungen auf zwei Häuser verteilt. „Der SOS-Kinderdorf e. V. hat damals entschieden, wir müssen direkt in die Stadt, dorthin, wo Hilfe am dringendsten gebraucht wird“, erklärt Barbara Winter von der Öffentlichkeitsarbeit im Kinderdorf Berlin.

Ein Familienzentrum für den umgebenden Stadtteil gehört zum Kinderdorf. Seit 2005 steht das sechsstöckige, hell und offen gestaltete Gebäude in der Waldstraße, neben den Wohnungen für zwei Kinderdorffamilien sind hier ein Café mit Familientreff, eine Kita, Beratungsangebote und Kursräume untergebracht.

Präventiver Ansatz

„Die Idee war, mitten in Moabit einen einladenden Bereich zu schaffen für Menschen, die Schutz oder auch Freizeitbeschäftigung suchen“, sagt Winter. „Der präventive Ansatz ist Teil unserer frühen Hilfen, damit es gar nicht erst so weit kommt, dass Kinder ihre Familien verlassen müssen.“ Mit den Angeboten von Straßenspielen bis zu Erziehungsberatung, von Mittagessen bis zu Kunstprojekten und Musikunterricht erreichten sie inzwischen rund 300 Menschen am Tag. Die leiblichen Eltern der Kinder, die ins SOS-Kinderdorf kommen, sind aus den unterschiedlichsten Gründen nicht mehr fähig, die Verantwortung für ihre Kinder zu übernehmen und sie zu erziehen. Das kann krankheitsbedingt sein, auch wegen psychischer Probleme, wegen Drogen- oder Alkoholmissbrauch, Gewalt oder Vernachlässigung.

Das Jugendamt vermittelt die Kinder. „Dann geht es in erster Linie darum, Bindungen aufzubauen und ihnen eine andere Art von Zuhause zu bieten“, erklärt Kinderdorfmutter Christine Müller. Aber auch darum, „ihnen nicht das Elternhaus madig zu machen, sondern beides zuzulassen“.

In ihrer Kinderdorffamilie leben zurzeit fünf Kinder. Vanessa, mit fünfzehn Jahren die Älteste, Vilou und ein weiteres zwölfjähriges Mädchen, die elfjährige Zoë und ein vierzehnjähriger Junge. Ein Platz ist derzeit frei.

Seit diesem Jahr gehören auch zwei minderjährige unbegleitete Flüchtlinge dazu. „In der Regel nehmen wir Kinder auf, bis sie zwölf Jahre sind, weil sie da auch noch bereit sind, sich auf so eine Familienkonstellation einzulassen“, erklärt Müller.

Die meisten kommen aus Berlin und haben es meist nicht weit bis zu den Eltern. Auch das ist eine Besonderheit des Berliner SOS-Kinderdorfs: Die Kinder sollen nicht das gesamte soziale Umfeld, sondern nur die Familie wechseln müssen

Die Kinder haben Aufgaben

Die staatlich anerkannte Erzieherin arbeitet seit elf Jahren als Kinderdorfmutter. Sie wechselt sich im Kinderdorf mit zwei weiteren Erzieherinnen ab. Mittags kocht eine Haushälterin. Die Kinder erledigen täglich wechselnden Aufgaben im Haushalt wie Einkaufen, Spülmaschine einräumen, Ausfegen, Müll runterbringen. Das jüngste Kind, das sie aufgenommen habe, war sechs Jahre alt, erzählt Müller.

„Ich bin diejenige, die am meisten und am längsten da ist“, sagt Kinderdorfmutter Christine Müller, hier mit Vilou

„Stefan, der jetzt achtzehn geworden und vor Kurzem ausgezogen ist, ist mit sieben zu uns gekommen. Er ist wirklich hier groß geworden“, sagt sie. Bei den beiden unbegleiteten Flüchtlingen könne bisher niemand abschätzen, wann die Eltern nachkommen könnten. Die meisten Kinder, die sie in ihrer Familie hatte, seien acht bis zehn Jahre geblieben.

Vanessa guckt noch mal zur Küchentür rein. „Mütze ist besser, oder?“, fragt sie und wechselt kurz zwischen Haarreif und schwarzer Mütze, unter der nun nur noch die blau gefärbten Haarsträhnen herausgucken. „Ja, so ist gut“, bestätigt Vilou. Ein kurzes Tschüss, und die Tür fällt hinter Vanessa ins Schloss.

Vilou braucht etwas länger, bis sie sich die Haare gekämmt und passende Klamotten ausgewählt hat. Den Schal hat sie sich vorher von Vanessa geliehen. Dann macht sie sich auf den Weg zu ihrem Cousin. Zoë räumt den Tisch mit ab und läuft zwischendurch ans Fenster, um Ausschau nach dem Auto ihres Vaters zu halten.

Nach Angaben der Senatsverwaltung für Jugend lebten in Berlin 2015 rund 6.000 junge Menschen in betreuten Wohnformen – darunter rund 1.850 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Die Zahl ist gestiegen, 2016 werden es vermutlich über 6.500 sein. Insgesamt leben rund 556.000 unter 18-Jährige in der Stadt.

Sorgeberechtigte, also in der Regel die leiblichen Eltern, haben Anspruch auf Hilfen zur Erziehung, wenn das Wohl des Kindes nicht mehr gewährleistet ist oder Hilfe für seine Entwicklung notwendig ist.

Die Gründe, warum Kinder in betreuten Wohnformen untergebracht werden, sind vielfältig. Konflikte in der Familie, psychische oder körperliche Erkrankungen der Eltern oder prekäre Lebenssituationen können dazu führen, dass das Jugendamt den Bedarf für Kinder- oder Jugendhilfe feststellt. Eltern können bei der Entscheidung, wie und wo ihr Kind untergebracht wird, ein Wunsch- und ein Wahlrecht geltend machen.

Die Möglichkeiten, Kinder, die nicht mehr bei ihren leiblichen Eltern leben sollen oder können, unterzubringen, reichen von Pflegefamilien bis zur stationären Unterbringung in einem Kinderheim. Bei der Heimerziehung leben in der Regel bis zu zehn Kinder in einer Gruppe zusammen. Die zuständige Senatsverwaltung hält besonders für jüngere Kinder die Betreuung in einer Pflegefamilie oder in familienähnlichen Unterbringungsformen für am geeignetsten.

Die Unterbringung im SOS-Kinderdorf zählt zu den fami­lien­analogen Strukturen. Ein Unterschied zur Heimerziehung ist, dass das familiäre Zusammenleben mehr im Vordergrund steht, außerdem sind die Gruppen kleiner – in der Regel leben sechs Kinder in einer Kinderdorffamilie.

Die Kinder und Jugendlichen bleiben so lange, wie es notwendig erscheint und vom Jugendamt befürwortet wird. Die Kinder können auch zu ihren Eltern zurückkehren, wenn sich diese die Erziehung und das Versorgen wieder zutrauen. (usch)

Nicht weit zu den Eltern

Die meisten Kinder kommen tatsächlich aus Berlin und haben es meist auch nicht weit bis zu den Eltern. Auch das ist eine Besonderheit des Berliner Kinderdorfs, die Kinder sollten so ihren Freundeskreis behalten können, weiter in dieselbe Kita oder Schule gehen, so dass sie nicht das gesamte soziale Umfeld, sondern nur die Familie wechseln müssten. Der Kontakt zu den Herkunftsfamilien solle nicht abbrechen, sondern stabilisiert und verbessert werden. Eine Rückkehr sei allerdings eher „die Ausnahme“, erklärt Müller.

Der Eingang zum Familienzentrum mit Café – darüber befinden sich zwei große Wohnungen des Kinderdorfs

Auch die Angebote des Familienzentrums gehören zum Alltag der Kinder und Jugendlichen aus dem Kinderdorf. Sie nutzten das Sportangebot, die Beratungsstelle oder das Café. Gemeinsame Feste feiern die Kinderdorffamilien im Hinterhof, „der ist ein bisschen Ersatz für den Dorfplatz in den klassischen Kinderdörfern“, sagt Müller. Und am Ende des Schuljahrs machen die Kinderdorffamilien immer ein gemeinsames Picknick im Park.

Weihnachtsplanung

Gegen halb zwölf klingelt es, kurze Zeit später steht Zoës Vater in der Tür, um sie abzuholen. Mit Christine Müller bespricht er kurz, welche Tage Zoë in den Weihnachtsferien in der Kinderdorffamilie verbringen wird und wie lange sie zu ihm kommen möchte, um die Verwandten zu treffen. Zoë zieht ihre Jacke an und sucht ihre Sachen zusammen. Sie zeigt ihrem Vater die neuen Handschuhe in Pink, die farblich gut zu ihrer Jacke passen, lässt sie dann aber absichtlich liegen. Auch Handschuhe vertragen sich nicht mit ihren künstlichen Nägeln.