: Heute hier und morgen dort
Unterwegs Kinder von Schaustellern oder Zirkusfamilien sind nie länger als wenige Wochen an einem Ort. Dementsprechend oft wechseln sie die Schule, und das ist nicht immer einfach
von Joachim Göres
„Insgesamt habe ich 584 Schulen besucht.“ Wer diese Zahl aus dem Mund von Soraya Senff hört, der kann zunächst so seine Zweifel bekommen. Wie soll das gehen? Ganz einfach: Senff stammt aus einer Zirkusfamilie. 1966 wurde sie in Einbeck eingeschult. In den Wintermonaten wohnte sie dort mit ihren Eltern und besuchte mindestens drei Monate im Jahr ihre Stammschule. Dann ging es mit dem Zirkus für Auftritte quer durch Deutschland, in die Schweiz, nach Italien und in andere Länder – und Senff besuchte die Schule im jeweiligen Gastspielort. Ihr Vater hatte ein Heft für sie angelegt, in das jeder ihrer Lehrer mit einem Stempel bescheinigte: Du warst hier.
Auch heute sind Tausende Kinder die meiste Zeit des Jahres mit ihren Schaustellereltern unterwegs. Einer von ihnen ist der 14-jährige Julius Armbrecht. Seine Eltern bauen seit Jahren auf dem Celler Weihnachtsmarkt ihre Winzerhütte auf. Bisher besuchte Julius in dieser Zeit eine Schule in Celle, in diesem Jahr nimmt er für die vier Wochen an einem Online-Schulkurs teil. Außerdem schaut Margit Warning regelmäßig bei ihm vorbei – sie ist Grundschullehrerin in Braunschweig und betreut als sogenannte Bereichslehrerin Kinder von Schaustellern in der Region Celle-Braunschweig-Helmstedt.
Im Winter wohnen die Armbrechts in Eschershausen bei Holzminden, wo Julius die achte Klasse einer Realschule besucht. Von dieser Stammschule bekommt er einen Lernplan mit Aufgaben aus allen Fächern für die Zeit, in der er mit seinen Eltern unterwegs ist. Heute sitzt er mit Margit Warning in der Celler Ferienwohnung, in der die Armbrechts während des Weihnachtsmarktes wohnen. Julius hat von seiner Lehrerin aus Eschershausen im Fach Gesellschaftslehre Fragen zum Sozialsystem in Deutschland bekommen, die er schriftlich beantworten soll. Er sucht im Schulbuch alles zum Thema zusammen und bespricht mit Warning etwa die Absicherung im Fall der Erwerbslosigkeit und schreibt seine Antworten auf. Gut zwei Stunden dauert dieser besondere Unterricht.
„Kinder von Reisenden müssen viel selbstständiger sein, denn sie lernen viel online“, sagt Warning. „Und wenn sie eine fremde Schule besuchen, müssen sie sich immer wieder auf neue Schüler und Lehrer einstellen. Dort arbeiten sie individuell mit den Schulbüchern aus ihrer Stammklasse, das erfordert auch viel Eigenständigkeit.“
Julius’Bruder Raimond hat in diesem Jahr die Realschule abgeschlossen. Seine Noten waren gut und der 16-Jährige könnte aufs Gymnasium gehen, doch weitere drei Schuljahre reizen ihn nicht. Er arbeitet jetzt erst mal auf dem Celler Weihnachtsmarkt mit und will später den seit vier Generationen bestehenden Familienbetrieb übernehmen.
Dafür wird er bald den Berufsschulkurs „Berufliche Kompetenz für Schausteller“ besuchen, der ihn auf den Schaustellerbetrieb vorbereitet. In den Lehrgängen, die von Berufsschulen in Nidda und Herne angeboten werden, geht es etwa um Betriebswirtschaftslehre, EDV, Buchführung und Schweißen.
Raimond Armbrecht kennt Kinder von Schaustellern, die Internate besuchen oder in ihrem Heimatort beispielsweise bei den Großeltern bleiben, damit sie nicht ständig die Schule wechseln müssen. Aber er wollte nie mit ihnen tauschen: „Ich bin froh, dass ich bei meinen Eltern bleiben konnte. Ich kann mir kein Leben als Angestellter vorstellen, sondern möchte mein eigener Herr bleiben – so bin ich groß geworden.“
Raimond Armbrecht, Sohn einer Schaustellerfamilie
In den sogenannten Stützpunktschulen, die Kinder von Reisenden vorübergehend aufnehmen, sollen die Lehrer im Schultagebuch den behandelten Stoff festhalten und die Leistung der Schaustellerkinder beurteilen. Häufig finden sich aber in den Berichten an die Stammschule, die für das Zeugnis verantwortlich ist, keine Angaben über den Leistungsstand. „Es ist für Lehrer nicht so einfach, das Wissen und die Fortschritte von Kindern zu beurteilen, die sie nur kurze Zeit kennenlernen“, sagt Warning. Monika Armbrecht hat eine andere Erklärung: „Je kleiner der Ort, umso größer sind an Schulen die Vorbehalte gegenüber Schaustellern. Aber es ist heute zumindest besser als zu meiner Schulzeit, denn damals gab es noch keine Bereichslehrer.“ Sie wünscht sich, dass ihre Söhne das Abitur machen, denn man wisse nie, was die Zukunft bringe.
Eine Sorge, die auch viele Zirkuseltern umtreibt. Nach der Erfahrung von Claudius Höschen, Lehrer an der „Schule für Cirkuskinder“ in Hilden bei Düsseldorf, bleiben Kinder aus Artistenfamilien zu 90 Prozent im Zirkusgewerbe. Das könnte sich bald ändern, wegen der schwierigen wirtschaftlichen Situation vieler kleiner Zirkusse. „Viele Eltern haben keinen Schulabschluss, weil sie in ihrer Jugend nicht die Chance auf eine vernünftige Ausbildung bekamen“, sagt Höschen. „Umso dankbarer sind sie für unser Angebot für ihre Kinder, gerade für den Fall, dass ihre Kinder mal in einem anderen Beruf arbeiten müssen.“ Die meisten seiner Schüler schaffen einen mittleren Abschluss.
Soraya Senff ist heute Bereichslehrerin im Raum Göttingen. Sie sieht viele Verbesserungen im Vergleich zu ihrer Zeit als reisende Schülerin. Dazu gehören unter anderem das Schultagebuch oder auch das mobile Klassenzimmer, wie es sie beispielsweise in Nordrhein-Westfalen gibt. Dort kommen Bereichslehrer wie Claudius Höschen mit zu Klassenräumen ausgebauten Kleinbussen zu Schaustellern und Zirkussen und unterrichten Kinder und Jugendliche in festen Gruppen.
Ein Problem bestehe überall, wo die reisenden Kinder vorübergehend eine Schule besuchen. „Einerseits sollen die Kinder in der Stützpunktschule gut mitarbeiten, damit ein aussagekräftiger Lernstandsbericht erstellt werden kann, andererseits sollen sie während des Unterrichts ihre individuellen Lernpläne bearbeiten“, sagt Höschen. „Beides kann einfach nicht gehen.“
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