Die Hinterbliebenen

NSU-SERIE TEIL 3 Fünf Jahre nach dem Bekanntwerden der Existenz des NSU leben die Opferfamilien mit Enttäuschung: die Aufklärung stockt, der NSU-Prozess zieht sich in die Länge. Diese Woche trafen sich die Angehörigen in Kassel

Tatort Holländische Straße in Kassel: In diesem Internetcafé wurde Halit Yozgat im April 2006 erschossen. Heute befindet sich darin die Stadtimkerei. Diese Aufnahme stammt von 2014 Foto: Paula Markert

AUS KASSEL Konrad Litschko

Es ist Montagmittag, als Ismail Yozgat ganz still wird. Am Morgen hatte er noch sein „willkommen, merhaba“ in die Runde geworfen, alle herzlich umarmt. Familie Şimşek , Mutter und Tochter Kiesewetter, Familie Taşköprü, Abdullah Özkan aus Köln. Nun sitzen sie alle im Bus, den die Stadt Kassel ihnen für eine Rundfahrt gebucht hat. Und Ismail Yozgat verstummt, lehnt seine Stirn gegen die Scheibe, seine Augen starren nach draußen. Es ist der Moment, in dem der Bus in die Holländische Straße biegt.

Hier, in dieser Straße, wurde 1985 Yozgats Sohn Halit geboren. Und hier ist er gestorben, am 6. April 2006. Halit Yozgat war das neunte und letzte migrantische Opfer des Nationalsozialistischen Untergrunds. Erschossen in seinem Internetcafé. Der Bus fährt an dem Haus vorbei, ein Vierstöcker mit mattorangefarbener Fassade. Das Internetcafé ist längst geschlossen, heute sitzt hier die Stadtimkerei.

Wenig später steht Ismail Yozgat auf einem benachbarten kleinen Platz, mehr eine Straßenecke. Autos rauschen auf der vierspurigen Holländischen Straße vorbei, ein Blumenladen bietet seine Floristik an. Yozgat und die anderen sammeln sich vor einer grauen Stele: die für seinen Sohn und die anderen Opfer des NSU. Der kleine Platz heißt seit 2012 Halitplatz.

„Wir bedanken uns, dass Sie unseren Schmerz teilen“, sagt Yozgat. Seine Stimme zittert, die Hände vergräbt er in den Ärmeln seines schwarzen Anoraks. „Wir glauben an Gerechtigkeit“, sagt er. „Wir verlieren nie die Hoffnung.“ Am Ende bittet Yozgat die Umstehenden um ein kurzes Gebet, einige Angehörige nehmen sich in den Arm.

Gut 25 Männer und Frauen sind am Montag nach Kassel gekommen. Sie alle haben ein Familienmitglied verloren, getötet durch den NSU, oder wurden selbst verletzt von der Bombe, die die Rechtsterroristen in der Kölner Keupstraße zündeten. In Rostock waren sie schon, in München, Hamburg, Dortmund und Nürnberg. Immer trafen sie sich an den Tatorten. Barbara John, die Ombudsfrau der Bundesregierung für die Opferangehörigen, hatte die Idee. „Um die Familien zusammenzubringen“, sagt sie. „Und um die Städte an ihre Verantwortung für die Angehörigen zu erinnern.“

Über Jahre war deren Schicksal die Vereinzelung. Neunmal mordete der NSU zunächst, neunmal waren die Opfer Migranten. Und jedes Mal gehörten die Familien selbst zu den Verdächtigen. Nach angeblichen Drogengeschäften der Erschossenen fragten die Ermittler ihre Angehörigen, nach Geliebten, nach Mafiakontakten. Bekannte wandten sich ab, die Familien zogen sich zurück.

Bis sich am 4. November Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in Eisenach erschossen und Beate Zschäpe eine Bekenner-DVD verschickte. Der NSU bekannte sich darin zu den Morden, auch zu dem an der Polizistin Michèle Kiesewetter im Jahr 2007. Die Taten waren rechtsextremer Terror.

Nun steht auch Abdulkerim Şimşek auf dem Halitplatz, 28 Jahre, gestutzter Bart, schwarzes Sakko. Er ist mit seiner Frau und seiner zweijährigen Tochter angereist. Sein Vater war das erste Opfer des NSU: Im September 2000 wurde Enver Şimşek in seinem Blumenstand in Nürnberg mit acht Kugeln erschossen. Nun, 16 Jahre später, sagt sein Sohn noch immer: „Wir kommen nicht zur Ruhe.“

Şimşek berichtet von seiner Enttäuschung, so wie viele hier. „Uns wurde Aufklärung versprochen, aber nichts passiert.“ Ihren Anwälte würden von der Bundesanwaltschaft Akten vorenthalten, der Verfassungsschutz schreddere Unterlagen. „Das trifft uns wirklich“, sagt Şimşek. Bis heute sei unklar, ob es nicht noch mehr Helfer und Mittäter des NSU gab. Şimşek glaubt fest daran. „Das können die niemals alleine gemacht haben. Sie hatten Leute vor Ort, die die Opfer ausgesucht haben.“ „Es wird viel von Aufklärung geredet, aber es passiert nichts“, sagt in Kassel auch Osman Tașköprü, dessen Bruder im Juni 2001 in einem Hamburger Gemüseladen erschossen wurde.

„Ich dachte, dass Deutschland ein gerechtes Land ist“, sagt Ayse Yozgat, Mutter von Halit Yozgat. „Aber ich erlebe, dass es zwei Gesichter gibt.“ Der Mord an Yozgats Sohn gehört für die Familien zu einer der größten Vertrauensproben. Bis heute ist er einer der mysteriösesten des NSU. Am Nachmittag des 6. April 2006 findet Ismail Yozgat seinen Sohn in dessen Internetcafé, zweimal wurde ihm in den Kopf geschossen. Halit stirbt in seinen Armen. Im Intercafé saßen zum Zeitpunkt der Schüsse fünf Kunden, keiner will was gesehen haben. Darunter: Verfassungsschützer Andreas Temme.

Warum er vor Ort war, ist ungeklärt. Vor zwei Untersuchungsausschüssen wurde Temme angehört, zu dem Münchner NSU-Prozess wurde er sechsmal vorgeladen. Stets beteuerte er: Er sei nur privat im Internetcafé gewesen. Dass er sich als einziger Zeuge nach dem Mord nicht gemeldet habe, sei einem Flirtportal geschuldet, auf dem er chattete, was seine Frau nicht wissen sollte. „Temme lügt“, sagt Ismail Yozgat. „Entweder er deckt die Täter oder er war selbst an dem Mord beteiligt.“ Auch Ermittler glauben, dass Temme zumindest den Toten gesehen haben muss. Nachgewiesen aber ist nichts. Temme arbeitet heute im hessischen Regierungspräsidium.

Auf dem Halitplatz stellt Ismail Yozgat eine Forderung: Der NSU-Prozess müsse einen Ortstermin in Kassel machen, um Temme zu widerlegen. Er glaube an ein „richtiges Urteil“, sagt Yozgat. Auch wenn es bis dahin lange dauere.

„Wie lange soll es denn noch dauern?“, murmelt Osman Tașköprü vor sich hin, er steht neben Yozgat. Auch der Kurierfahrer ist mit seiner Frau und kleiner Tochter angereist, auch er ist enttäuscht. Hinter dem NSU müsse es „noch größere Leute“ geben. „Sonst wären die drei nicht jahrelang unentdeckt geblieben.“

Der Fall: Vor fünf Jahren, am 4. November 2011, flog mit dem Tod von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) auf. Die taz widmet sich aus diesem Anlass die ganze Woche lang mit einer täglichen Schwerpunktseite dem Erinnern an das Geschehene und der Analyse des Rechtsterrorismus

Gestern erschien: „Der NSU: Die V-Männer“. Kurzporträts von Andreas Speit.

Morgen erscheint: „NSU-Serie 4: Der Mord in Heilbronn“, von Gareth Joswig.

Alle Teile: online unter www.taz.de/NSU-Serie

Auf dem Halitplatz legt auch die Kassler Schulstadträtin Anne Janz einen Kranz nieder. „Wir stehen an Ihrer Seite“, sagt die Grünen-Politikerin. Die Angehörigen applaudieren. Dann aber wiederholt Ismail Yozgat seine Forderung, die er schon vor der Kanzlerin in Berlin stellte: die Umbenennung der Holländischen Straße in Halitstraße. Die Stadt lehnt das ab: Die Bürger würden das nicht mitmachen, die Straße sei eine der Hauptachsen. Kamil Saygin sieht das anders. „Ich würde mir wünschen, dass die Umbenennung eines Tages kommt“, sagt der Vorsitzende des Kassler Ausländerbeirats.

Saygin begleitet die Familien über den Tag. Beim Mittagessen erinnert er, wie er im Mai 2006 mit Ismail Yozgat vor dem Rathaus Kassel stand. Ein Monat zuvor war Halit Yozgat erschossen worden, nun forderten 4.000 Demonstranten: „Kein zehntes Opfer!“ Schon damals, sagt Saygin, habe er gesagt, die Täter seien Rechtsextreme gewesen. „Wir lagen leider richtig, aber keiner hat uns geglaubt.“ Bis heute rätselt aber auch Saygin, warum es ausgerechnet Halit Yozgat traf.

Eine, die es wohl weiß, ist Beate Zschäpe. Im Münchner NSU-Prozess saß ihr im Oktober 2013 auch Ayse Yozgat gegenüber. „Ich spreche als Mutter, als eine Geschädigte“, sprach sie Zschäpe direkt an. „Ich bitte Sie, dass Sie all diese Vorfälle aufklären.“

Inzwischen hat Zschäpe ihr Schweigen gebrochen. Im Dezember 2015 ließ sie ihren Anwalt eine Erklärung verlesen, zuletzt sprach sie kurz auch selbst: Sie verurteile die Morde und Anschläge. Damit zu tun aber habe sie nicht. Dafür seien allein ihre Begleiter Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt verantwortlich. Ayse Yozgat hat die Aussage nur mehr verbittert. „Was hat Frau Zschäpe gesagt? Nichts.“ In diesem Punkt sind sich alle Familien in Kassel einig. „Das war nur Theater“, sagt auch Abdulkerim Şimşek. „Zschäpe spielt allen etwas vor.“ Von ihm aus aber könne diese selbst Freispruch bekommen. „Wenn sie endlich die Hintermänner benennt.“

Es sei eine Größe der Familien, dass sie zwei Schicksale tragen könnten, sagt Barbara John, die Ombudsfrau. „Erst konnte der Staat die Morde nicht verhindern. Und jetzt kann er sie nicht aufklären.“

Bei aller Enttäuschung, ein Stück Hoffnung bleibt. Es ist am Nachmittag, als auch Ayse Yozgat sagt: „Wir glauben an die Wahrheit. Irgendwann, so Gott will, wird sie zum Vorschein kommen.“