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Editorial von Sven HansenGriff nach dem Strohhalm

Mit Zusagen über 15,2 Milliarden US-Dollar hat die Afghanistan-Geberkonferenz in Brüssel jetzt fast so viel Finanzhilfe für das von Krieg, Armut und Unsicherheit gezeichnete Land am Hindukusch mobilisiert wie die letzte Konferenz vor vier Jahren in Tokio. Angesichts der desolaten Lage und verbreiteten Hoffnungslosigkeit in Afghanistan, vor der längst wieder täglich Tausende ins Ausland fliehen, ist das erstaunlich. Vielleicht hatte die jüngste Offensive der Taliban in Kundus hier einen Werbeeffekt.

Die in Brüssel gezeigte Hilfsbereitschaft wird von zwei Motiven genährt: Zum einen sollen die zugesagten Gelder möglichst viele Afghanen von der Flucht ins Ausland abhalten. Zum anderen sollen die Mittel die fragile Regierung in Kabul stärken und so den weiteren Vormarsch der Taliban vereiteln, wie er sich gerade in Kundus zeigt.

Natürlich ist Afghanistan 15 Jahre nach Beginn der US-Militärintervention „Operation Enduring Freedom“, die zur Entsendung von mehr als 130.000 internationalen Soldaten geführt hat und mehr Geld mobilisierte als für den europäischen Marshallplan, heute ein anderes Land als damals. Es gab einen enormen Modernisierungsschub: Heute sind etwa Smartphones omnipräsent im Straßenbild, während es damals so gut wie gar keine Telefone gab. Richtig ist auch, dass heute mehr Mädchen und Frauen Zugang zu Bildung haben als unter den Stein­zeit­islamisten. Doch gab es hier die letzten Jahre kaum noch Fortschritte. Und die Taliban sind inzwischen stärker denn je.

Die jetzt zugesagte Hilfe gleicht dem Griff nach einem Strohhalm. Mangels praktikabler Alternativen soll wenigstens verhindert werden, dass die Lage in Afghanistan noch unsicherer wird. Beobachter sind inzwischen einig darüber, dass sich der Konflikt ohne Verhandlungen mit den Taliban nicht befrieden lässt – doch die verweigern jegliches Gespräch. Die damals gesteckten Ziele – Korruption bekämpfen, die Rechte der Frauen stärken, die Zivilgesellschaft fördern – bleiben richtig und verdienen mehr Aufmerksamkeit und Anstrengung. Die Taliban werden sich davon allerdings kaum beeindrucken lassen.

Aus Anlass des 15. Jahrestags des Beginns der „Operation Enduring Freedom“ widmet sich die taz ausführlich der Lage am Hindukusch. Wir ziehen Bilanz und sprechen mit Afghaninnen und Afghanen. Wie sinnvoll war der Einsatz der Bundeswehr und wie gehen wir heute mit afghanischen Flüchtlingen um? Viele Antworten sind unbefriedigend, wirkliche Lösungen nicht in Sicht. Doch aus der Verantwortung stehlen können wir uns nicht, damals wie heute.

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