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Straßen für Omas und Babys

Autopilot Die Debatte über selbst fahrende Autos blendet entscheidende Fragen aus. Wir sollten den öffentlichen Raum als Gemeingut zurückerobern

Foto: privat
Annette Jensen

ist freie Journalistin in Berlin mit den Schwerpunkten Wirtschaft, Umwelt und gesellschaftliche Transformation. Im Oekom-Verlag ist zuletzt ihr Buch „Glücksökonomie. Wer teilt, hat mehr vom Leben“ erschienen, das sie zusammen mit Ute Scheub geschrieben hat.

von Annette Jensen

Das selbst fahrende Auto galt in Deutschland lange Zeit als abwegige Idee: Ein echter Mann wird das Steuer nie aus der Hand geben. Doch inzwischen versetzen Google und Tesla die Autohersteller in Panik: Sie fürchten, zu Zulieferern degradiert zu werden. Deshalb gingen die Manager von BMW, Audi und Daimler im vergangenen Herbst gemeinsam auf Einkaufstour und übernahmen für 2,8 Milliarden Euro den digitalen Kartenhersteller Here. Dessen Technik kann sogar Bordsteinkanten und überstehende Gullydeckel zentimetergenau erfassen und soll Autos künftig mit dynamischen Karten ausstatten, die von der gesamten Fahrzeugflotte ständig aktualisiert werden.

Mittlerweile scheint klar: Die Verkehrsinfrastruktur wird bald nicht mehr allein aus Asphaltschneisen und Ampeln bestehen. Auch die Kommunikation von Autos untereinander und mit der Umgebung wird dazugehören. Wer hier Normen setzt, bestimmt über die langfristige Gestaltung des öffentlichen Raums.

Was Weichenstellungen in der Frühphase einer Entwicklung bedeuten, lässt sich gut am Auto selbst studieren. Bis zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts waren Straßen Gemeingut, alle hatten hier gleiche Rechte. Dann aber stellten private Automobilisten 1905 die ersten Verkehrsschilder auf und reklamierten für sich freie Fahrt: Die 60 Millionen unmotorisierten Bürger in Deutschland sollten zur Seite treten, wenn eines der 16.000 Autos heranbrauste. 1909 führte der Staat die Haftpflichtversicherung ein – und damit galt nicht mehr, dass immer die Betreiber von technischen Geräten für verursachte Schäden aufzukommen hatten. Auch die Opfer konnten für ihre Unvorsichtigkeit verantwortlich gemacht werden. Die Verwandlung der Straßen in Fahrbahnen hatte begonnen – und damit ein Prozess, der den gesamten Alltag und das Gesicht unserer Städte prägt.

Blechbüchsen und Datenkraken

Die Frage, wer über die Regeln im öffentlichen Raum bestimmt, ist eine gar nicht zu überschätzende gesellschaftspolitische Frage. Gegenwärtig aber verkürzt sich die ethische Debatte über selbst fahrende Autos auf nur einen Aspekt: Darf ein Computerprogramm darüber entscheiden, wer bei einem unvermeidlichen Unfall totgefahren wird – ein Baby oder doch lieber die Rentnergruppe?

Das aber ist eine völlig falsche Frage. Sie setzt bereits voraus, dass die Menschen am Straßenrand lediglich in einer Hinsicht eine Rolle spielen: als potenzielle Opfer. Doch warum sollte schon heute klar sein, dass RentnerInnen und Kinder nicht von einer Neugestaltung des öffentlichen Raums profitieren, wie sie die Entwicklung selbst fahrender Autos vielleicht ermöglicht?

Hier kommt Google ins Spiel. Der Konzern vertritt eine völlig andere Perspektive als die deutschen Lu­xuslimousinenhersteller. Blechbüchsen mit Rädern interessieren das Unternehmen nur insofern, als sie ständig herumfahren, um dabei neue Daten zu sammeln – denn daraus will Google neue Geschäftsfelder erschließen. In einem Werbevideo fürs selbst fahrende Auto kommt ein niedliches Vehikel angefahren, Omas, Kinder und Blinde steigen ein und genießen den Fahrtwind. Vom Konzept her sind das fahrerlose Taxis, die damit eher zum ÖPNV zählen als zur privaten Autoflotte.

Völlig zu Recht fürchten viele Menschen die Macht der neuen Cham­pions aus den USA. Googles Produkte dringen immer tiefer in den Alltag ein und locken uns in ein Gestrüpp von Diensten, aus dem es kein Entrinnen geben soll. Die Suchmaschine übernahm dabei eine ähnliche Funktion wie die ersten Verkehrsschilder der Automobilisten vor gut 100 Jahren – nur dass der Prozess jetzt rasend schnell abläuft. Es ist also keine gute Idee, dem Datenkraken weitere Bereiche unseres Alltags zu überlassen. Aber ist das Grundkonzept nicht verlockend? Würde der Individualverkehr von selbst fahrenden Elektroautos abgewickelt, die nicht 23 Stunden am Tag herumstehen, sondern laufend genutzt werden, könnte ein Großteil der heutigen Parkplätze und Fahrbahnen in Parks, Straßencafés und Spielplätze verwandelt werden. Vogelgezwitscher statt Motorenlärm, frische Luft statt tödlicher Dieselabgase – für Fußgängerinnen und Radler, Babys und Omas wäre das eine wunderbare Perspektive.

Hinzu kommt, dass Experten bei selbst fahrenden Autos im Prinzip mit wesentlich weniger Unfällen rechnen, weil die Maschinen, anders als Menschen, nicht müde werden, Verkehrsregeln missachten oder ihr Auto als Statussymbol vorführen wollen. Allerdings muss der Einzelwagen relativ langsam fahren und ein gleichmäßiger Verkehrsfluss Priorität haben, damit das System nicht sofort viel zu komplex wird.

Demokratisch gestalten

Völlig zu Recht fürchten viele Menschen die Macht der neuen Champions aus den USA

Für deutsche Autohersteller ist all das undenkbar. In ihrer Vision rauschen Konferenzlimousinen zum Ziel, gelangweilte Fahrer schalten auf langen Strecken oder im Stau ab und den Autopiloten ein. Überlässt man ihnen die Gestaltung der neuen Verkehrsinfrastruktur, steht das Ergebnis schon fest: tote Babys oder Rentner – und noch mehr autogerechte Technik im öffentlichen Raum.

Vom Staat ist kein Gegenlenken zu erwarten. Verkehrsminister Alexander Dobrindt hat 80 Millionen Euro Fördergeld zum Thema autonome Fahrzeuge zur Verfügung gestellt und eine Expertenkommission ins Leben gerufen, damit sich Automobil- und Digitalindustrie abstimmen. Seit über hundert Jahren unterstützt die Politik allein die Interessen der Autofreunde und der Industrie – siehe Straßenbau, Pendlerpauschale, Dienstwagen­privileg, Abwrackprämie und Dieselgate.

Kurzum: Weder Google, Daimler noch der Staat sind geeignet, die Weichen für die neue Infrastruktur nach menschenfreundlichen Kriterien zu stellen. Die einzige Möglichkeit bestünde darin, sie als Gemeingut zu konstruieren. Die Programmierung wäre dann für alle einsehbar, Gemeinden könnten demokratisch entscheiden, wie sie den Verkehr regeln. Endlich hätten alle Einwohner wieder die Chance, den öffentlichen Raum mitzugestalten.

Wir stehen vor einer wichtigen Weggabelung. Wohin wir abbiegen, sollten nicht erneut die Automobilisten entscheiden.

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