Türkei

Fast zehntausend Menschen sind in der Türkei mittlerweile verhaftet worden. Der Konflikt trifft auch die deutschtürkische Community

Niemand kann sich mehr sicher sein

Repression Fast alle Institutionen sind jetzt von „Säuberungen“ betroffen. Auf den Straßen treibt derweil der Mob sein Unwesen – mit Billigung der Staatsspitze. Gräueltaten in der Putschnacht sind bestätigt

Ein festgenommener Soldat wird am Sonntag von einem Zivilisten in Mugla am Mittelmeer bespuckt Foto: Tolga Adanali/ap

Aus Istanbul Jürgen Gottschlich

Die Krebsgeschwüre herausschneiden, umfassende Säuberungen der Institutionen, hatte Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan bereits in der Putsch­nacht von Freitag, dem 15. Juli, gefordert. Jetzt, am Tag drei danach, wird die Säuberungswelle zu einer echten Flut. Bereits um 7 Uhr morgens verliest eine Nachrichtensprecherin über Minuten eine Liste hoher Generäle und Admirale, die bis zu diesem Zeitpunkt festgenommen wurden. Siebzig waren es am Morgen. Danach ging es Schlag auf Schlag weiter. Rund 8.000 Polizisten, die im Verdacht stehen, mit den Putschisten zu sympathisieren, werden suspendiert. Etliche von ihnen sollen angeklagt werden. Dann meldet das Innenministerium, 9.000 zivile Beamte würden freigesetzt, unter ihnen sind 30 Gouverneure.

Die Gouverneure sind die von der Regierung eingesetzten Provinzfürsten. Bei insgesamt 81 Provinzen wurden mehr als ein Drittel geschasst. Die Geschwindigkeit, mit der die Erdoğan-Administration die gesamten Institutionen der Republik umbaut, ist schwindelerregend und einschüchternd. Kein Staatsangestellter weiß, ob er morgen noch im Amt sein wird oder vielleicht schon in einer Arrestzelle steckt. Waren es am Samstag und Sonntag vor allem die Armee und der Justizapparat, die „gesäubert“ wurden, sind jetzt praktisch alle Institutionen betroffen.

Angefangen von den Gouverneuren bis hin zu Diplomaten, Universitätsrektoren und Mitarbeitern der Telecom kann sich niemand mehr sicher sein, was mit ihm passieren wird. Für alle Staatsangestellten ist ein Ausreiseverbot verhängt worden. Staatsangestellte haben in der Türkei einen grünen Sonderpass, mit dem sie visafrei in die EU reisen können. Etliche Besitzer dieser grünen Pässe wurden am Flughafen gestoppt.

Mittlerweile kursieren auch erste Listen von Journalisten, die festgenommen werden sollen. Dazu gehört der Chefredakteur von Cumhuriyet, Can Dündar, der frühere Chefredakteur von Taraf, Mehmet Altan, bekannte Kolumnisten wie Yavuz Baydar und Sahin Alpay, die früher in Gülen-Medien publiziert haben. Einige von ihnen befinden sich bereits im Ausland, andere können nur hoffen, dass die Liste nicht stimmt.

Aber nicht nur in den Institutionen, auch auf der Straße halten Erdoğan und seine Regierung den Druck systematisch aufrecht. Sogenannte „Bürgerwachen“ sollen auf Straßen und Plätzen dafür sorgen, dass kein Putschist mehr sein Haupt erhebt. Das führte bereits zu Gewaltexzessen. In der Nacht von Sonntag auf Montag wurde in Konya nach unbestätigten Informationen in den sozialen Medien eine Gendarmeriestation gestürmt. In etlichen anderen Städten patrouillierten Schläger der AKP mit Knüppeln durch die Straßen, um es vermeintlichen Putschsympathisanten zu zeigen. Ebenfalls unbestätigt blieben Meldungen, dass der Mob mehrere Schulen, die der Gülen-Bewegung angehören, in Brand gesteckt haben sollen. Bestätigt wurden Meldungen, dass im östlichen Malatya ein Mob in das alevitsche Viertel gezogen war, um die „Ungläubigen“ zu bestrafen. Nur das Eingreifen des Gouverneurs verhinderte offenbar das Schlimmste.

Die „Demokratie“ hat gesiegt, die „neue Türkei“ betritt die Weltbühne

Dieser durch den Staatspräsidenten legitimierte Mob hatte bereits in der Putschnacht unglaubliche Gräueltaten begangen. Sechs Soldaten, die sich auf der Bosporusbrücke ergeben hatten, wurden gelyncht. Trotz offizieller Dementis bestätigt sich jetzt, dass einem die Kehle durchgeschnitten, ein anderer nach IS-Manier geköpft wurde. Ein weiterer wurde von der Brücke in den Tod gestürzt und drei wurden erschlagen.

Die Erdoğan-Anhänger sehen sich am Ziel ihrer Wünsche. Demonstranten auf dem Taksim-Platz in Istanbul sagten, das sei ihr Aufstand und der Gezi-Aufstand vor drei Jahren sei endgültig ausgelöscht. Alle nicht zum Erdoğan-Lager gehörenden Bewohner der Türkei haben sich völlig aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Niemand wagt Kritik. In den regierungsnahen Blättern heißt es, wer davon reden würde, der Putsch sei inszeniert, sei selber ein Putschist. Für kritische Äußerungen ist kein Raum mehr.

In einer im Fernsehen übertragenen Kabinettssitzung dankte Premier Binali Yıldırım dem heldenhaften Volk, der gefügig gemachten Opposition und den Medien, die sich den Putschisten in den Weg gestellt hätten. Vor allem bei dem bislang regierungskritischen Dogan-Konzern, zu dem Hürriyetals Flaggschiff gehört, bahnt sich mit dem Putsch ein Kurswechsel an. Im TV-Sender CNN-Türk, ebenfalls ein Dogan Sender, hatte Erdoğan in der Putsch­­nacht per Smartphone seinen Aufruf zum Widerstand gegen die Putschisten unter die Leute bringen können. Nun wird der Konzern wohl seine Kontroverse mit Erdoğan begraben. Die „Demokratie“ hat gesiegt, die „Neue Türkei“ betritt in diesen Tagen die Weltbühne.