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„Es lohnt sich, langfristig zu denken“

Bildungsgerechtigkeit Akademikerkinder studieren weit häufiger als Nichtakademikerkinder, zeigt eine neue Studie. Woran das liegt – und warum Workshops kurz vor dem Abi helfen, erklärt Bildungsökonomin Katharina Spieß

Wer hoch hinauswill, sollte im deutschen Bildungssystem früh die Weichen stellen. Nichtakademikerkinder schaffen es aber oft nicht auf das Gymnasium Foto: plainpicture

Interview Ralf Pauli

taz: Frau Spieß, Sie haben rund 1.600 Berliner GymnasiastInnen befragt und herausgefunden, dass Kinder von Nicht­akademikern nicht so häufig studieren wollen wie Kinder von Akademikern. Wie erklären Sie sich das?

Katharina Spieß: Eine typische Antwort von Nichtakademikerkindern war, dass sie sich nicht gut über die Möglichkeiten eines Studiums informiert fühlen. Nahezu die Hälfte finden es schwierig, ein Studium zu finanzieren. Bei den Akademikerkindern sind dies nur rund ein Drittel. Nichtakademikerkinder sind auch weniger gut über Stipendienmöglichkeiten informiert.

Wir vermuten, dass sie teilweise nicht über das gesamte Lebenseinkommen nach­denken, sondern primär die Kosten im Vordergrund stehen, die damit verbunden sind, demnächst zu studieren. Das heißt also: Die Kosten eines Studiums werden überschätzt und der Nutzen eines Studiums wird unterschätzt.

Worauf führen Sie das zurück?

Das hat sicher viele Gründe. Unter anderem können Eltern ohne Studium ihren Kindern nicht aus eigener Erfahrung von den Vorteilen des Studiums berichten. Solche Informationen sind aber sehr hilfreich, um sich für ein Studium entscheiden zu können. Fehlt ihnen diese Basis, verzichten sie eher auf das Studium als Kinder aus Akademikerfamilien.

Es gibt ja immerhin auch die durchaus attraktive Alternative einer beruflichen Ausbildung, das darf nicht vergessen werden.

Akademikerfamilien sind oft bereit, ihren Kindern das Studium zu finanzieren. Fehlt diese Bereitschaft bei Eltern, die selbst nicht auf der Uni waren?

Die fehlende Bereitschaft mancher Eltern mag ein Punkt sein. Im Schnitt sind aber die Ein­kommen aus diesen Familien geringer. Die Eltern können nicht in gleichem Umfang ihre Kinder bei einem Studium unterstützen wie Akademiker­eltern. Entscheidend ist vielmehr, ob die Jugendlichen wissen, dass es alternative Finanzierungsmodelle für ein Studium gibt: Studienkredite, Bafög oder Stipendien, die nicht immer nur von den Noten abhängen.

Studentenjobs sind eine weitere Möglichkeit. Darauf haben wir in Workshops an einigen Schulen hingewiesen. Das Beeindruckende war: Dank der dort vermittelten Informationen ist der Studienwunsch bei Kindern, deren Eltern nicht selbst studiert haben, bis kurz vor dem Abitur erhalten ge­blieben. In den Schulen, in denen wir keine Workshops abgehalten haben, geben diese Abiturienten ihren Studienwunsch eher auf.

Was hat die AbiturientInnen vom Studium überzeugt?

Unsere Wissenschaftlerinnen haben über die Berufsperspektiven nach dem Studium aufgeklärt. Wie ist das Erwerbseinkommen von Personen mit und ohne Studium? Wie nach fünf Jahren? Wie langfristig? Wie ist die Erwerbslosenquote unter Akademikern? Wie ohne Hochschulabschluss? Damit wollen wir klarmachen: Wenn man studiert, bekommt man zwar erst mal weniger, als wenn man eine Ausbildung abschließt. Wenn man aber langfristig denkt, sind die Verdienstmöglichkeiten mit einem Studium im Mittel höher als mit einer Ausbildung. Und man ist besser vor Arbeitslosigkeit geschützt. Es lohnt sich, also langfristig zu denken.

Ein akademischer Abschluss ist aber kein Schutz vor prekären Beschäftigungsverhältnissen.

Im Durchschnitt hat man als ausgebildeter Ingenieur durchaus bessere Jobaussichten, als wenn man ein Studium im Bereich des Sozialwesens abgeschlossen hat. Das haben wir auch in unseren Workshops differenziert dargestellt. Es geht darum, dass angehende Abiturienten über systematische Informationen verfügen, um eine ausgewogene Entscheidung treffen zu können.

Wer informiert ist, studiert eher

Die Ergebnisse: Rechtzeitige Informationen über Nutzen und Finanzierung eines Studiums motivieren mehr Abiturienten aus Nichtakademiker-Familien für einen Hochschulbesuch. Das geht aus einer Langzeit-Befragung von rund 1.600 Berliner SchülerInnen hervor, die das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung und das Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung initiiert haben. Damit liegen zum ersten Mal Daten über den Zusammenhang von Informationen und Studienwunsch vor.

Die Studie: Die Wissenschaftler befragten seit 2013 angehende AbiturientInnen an 27 Berliner Schulen in Migranten-Kiezen. An ausgewählten Schulen informierten sie in Workshops detailliert über die Vorteile eines Studiums. (rp)

Die Zahl der Studierenden ist auf Rekordniveau. Gleichzeitig fehlen den Betrieben die Lehrlinge. Ist es wirtschaftlich überhaupt sinnvoll, wenn noch mehr AbiturientInnen an die Uni gehen?

Viele Ausbildungsberufe suchen händeringend Leute. In vielen Berufen herrscht Fachkräftemangel. Wir wollen aber nicht Werbung für das Studium oder gegen die Ausbildung machen, keinesfalls. Sondern wir wollen Informationsgleichheit herstellen beziehungsweise zumindest versuchen, das Informationsniveau anzugleichen. Aus Gründen der Bildungsgerechtigkeit kann es ja nicht sein, dass bei gleichen Leistungen ausgerechnet die Abiturenten, die nicht aus einer Akademikerfamilie stammen, die Lücken in den Betrieben schließen – und Akademikerkinder studieren. Die Entscheidung, ob sie studieren wollen oder nicht, sollen Jugendliche unabhängig vom Bildungshintergrund der Eltern fällen, und zwar auf der Basis möglichst gleicher Informationen.

Bei Akademikerfamilien entscheiden ja auch oft die Eltern. Etwa, indem sie schon in der Grundschule die Lehrkraft unter Druck setzen, ihr Kind auf das Gymnasium zu schicken. Bräuchte es nicht auch Workshops für die Eltern ohne Uni-Erfahrung?

So ein Workshop wäre grundsätzlich denkbar zum Ende der Grundschule in der vierten oder der sechsten Klasse. Wenn man dort die Erwerbschancen mit und ohne Aus­bildung thematisiert, würden vielleicht mehr Eltern ihr Kind auf das Gymnasium schicken wollen.Damit ist aber nicht gesagt, dass die Kinder später einmal studieren.

Ein Jahr vor dem Abitur denken Schülerinnen und Schüler dagegen sehr viel konkreter darüber nach, ob sie studieren wollen – dann macht es sehr viel Sinn, sie über ein Studium gut zu informieren. Welche Effekte Sie mit einem früheren Workshop erreichen, ist für mich aber reine Spekulation, da wir das nicht untersucht haben.

Vermutlich hätten mehr Kinder die Chance, ein Studium zu beginnen, die ihnen sonst verwehrt geblieben wäre.

Auch eine spannende Hypothese für ein neues Forschungsprojekt!

Fakt ist: An den Gymnasien, an denen die Workshops Sinn machen, schaffen es Kinder von Nichtakademikern kaum.

Wir haben durch die frühe Selektion keine gleichen Bildungschancen, da gebe ich Ihnen vollkommen recht. Aber das war nicht unsere Fragestellung. Sondern: Warum haben von denen, die bald ein Abitur erwerben werden, jene, deren Eltern keine Studienerfahrung haben, nach wie vor eine geringere Studienabsicht und wie kann das verändert werden? Wenn man mehr Kinder aus Nichtakademikerfamilien an Gymnasien bringen will, muss man woanders ansetzen.

Foto: diw
Katharina Spieß

50, ist ­Bildungs- und Familien­ökonomin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin.

Das Schulsystem reformieren, das so früh die Weichen stellt?

Es ist nicht nur das Schulsystem. In Familien ohne akademische Erfahrungen fühlen sich die Kinder schlechter informiert. Diesen Informations-gap müssen wir schließen oder zumindest versuchen zu reduzieren. Egal, in welchem Schulsystem sie sind.

Also Aufklärungsworkshops im ganzen Land?

Aufklärung ist definitiv wichtig, so können wir mit dazu bei­tragen, dass sich der sogenannte education gap reduziert. Dies setzt allerdings voraus, dass sich nicht nur die Studienabsichten und das Bewerbungsverhalten durch Informationen ändern, sondern auch der tatsächliche Übergang an die Hochschulen. Ob das der Fall ist, werden weitere Analysen auf der Basis unserer Längsschnittstudie zeigen. Fazit ist aber bereits heute: Informationen führen zu mehr Bewerbungen bei Abiturienten, deren Eltern keine Studien­erfahrung haben oder bei denen nur ein Elternteil eine Studium absolviert hat. Und das Beste ist: Diese bildungspolitische Maßnahme ist noch nicht mal sehr teuer.

Und der Workshop für die Eltern?

Das kann ich nicht fordern. Das habe ich nicht untersucht. Generell würde ich als Bildungsökonomin aber sagen: Informationen sind ein wichtiger Baustein für Bildungsentscheidungen – allerdings auch nicht der einzige. Man kann nicht früh genug damit anfangen, über den Nutzen einer guten Bildung zu informieren. Am besten schon vor der Kita.

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