piwik no script img

Dysfunktional, aber im Kollektiv

Porträt Sie landet immer wieder im Dazwischen, zwischen den Orten, zwischen den Systemen, zwischen den Eindeutigkeiten: die Dramenautorin Henriette Dushe

Die Theaterautorin Henriette Dushe Foto: Hauke-Christian Dittrich/dpa/picture alliance

von Christine Wahl

Der erste Wohlstandszeitgenosse schafft es plötzlich nicht mehr über die Büroschwelle: Burn-out. Den Zweiten ereilt nach einem Autounfall eine schwere Sinnkrise. Und der Dritte erkennt von einem Tag auf den nächsten die eigenen Kinder nicht mehr in Henriette Dushes Stück „In einem dichten Birkenwald, Nebel“. Das ist in der Inszenierung des Landestheaters Detmold diese Woche bei den Autorentheatertagen im Deutschen Theater in Berlin eingeladen.

Natürlich ist es nicht frei von bösartiger Tragikomik, wenn dem dysfunktionalen Männertrupp plötzlich ein „Du hast ja ein Ziel vor den Augen“ schmetterndes Frauentrio gegenübertritt. Dass es sich bei diesem Song um buchstäblich richtungsweisendes DDR-Liedgut handelt, das mit Vorliebe von klampfenden „FDJ-Singeklubs“ auf Fahnenappellen intoniert wurde, erwähnt Henriette ­Dushe in ihrem Text nicht. Es spielt einfach keine übergeordnete Rolle.

Ostbiografien, sagt die Autorin, kämen ja kaum mal einfach so vor in der Kunst, also selbstverständlich und unmarkiert: Wenn Osten, dann bitte explizit und möglichst als handlungstragendes Problem! Mit „Lupus in Fabula“, ihrem zweiten zu den Autorentheatertagen eingeladenen Text, hat sie deshalb schon für interpretationsfreudige Nachfragen aus den Theaterdramaturgien gesorgt. Das Stück versammelt drei Schwestern am Sterbebett ihres Vaters und thematisiert Erfahrungen, an die jede (westliche) Durchschnittsbiografie nahtlos anschlussfähig ist: Geschwisterkonkurrenz, Erinnerungsschmerz, Verzweifeln am innerfamiliären Pflegenotstand. Die Tatsache allerdings, dass dieses väterliche Sterbebett in der Schorfheide steht, veranlasste das dramatische Deutungsgewerbe umgehend zur Vermutung, die (rätselhafte) Krankheit des Vaters müsse irgendwie mit dem Zusammenbruch des Ostens zusammenhängen, wenn nicht gar die Großmetapher schlechthin dafür sein.

Es sind nun aber genau diese Latenzen, die wohltuenden Mehrdeutigkeiten und Bedeutungsüberschüsse, die Dushes Stücke so interessant machen. 1975 in Halle geboren und in Leipzig aufgewachsen, reiste die Autorin 1984, im Alter von neun Jahren, mit ihren Eltern und Geschwistern in die Bundesrepublik aus. „Ich habe wahnsinnig gelitten und hatte unglaubliches Heimweh“, erinnert sie sich. Sie sei in ihrer Familie immer diejenige gewesen, die irgendwie im Dazwischen hängen blieb. Zwischen den Orten, zwischen den Systemen, zwischen den Eindeutigkeiten.

Auch im Gespräch landet man mit Dushe schnell in diesen selten gewordenen Differenzierungszonen: Warum sie einerseits gern Mutter sei, andererseits aber auch ihr kinderloses Leben wahnsinnig mochte. Inwiefern sie zwar ständig das Bedürfnis habe, die Ostdeutschen zu verteidigen, gleichzeitig aber „tiefe Verachtung“ gegenüber den „Pegida-Prolls“ empfinde.

Dushe gewann für nahezu jedes Stück mindestens einen renommierten Preis

„Es gab eine Phase in meinem Leben, in der ich regelmäßig in die Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen gefahren bin“, erzählt die in Berlin lebende Autorin. Der verschiedenen Museumsführer wegen: einerseits Geschichtsstudenten mit ihrer sachlich-informativen Wissensvermittlung, andererseits ehemalige Stasi-Häftlinge mit ihrer Betroffenenperspektive – auch solche, die sie durchaus „kritisch“ sehe.

Zum Schreiben, jedenfalls zum professionellen, kam Henriette Dushe relativ spät. Zwar lag das Theater als Berufsperspektive durchaus nahe: In ihrem familiären Umfeld gibt es mehrere Schau- und Puppenspieler. Sie selbst arbeitete nach dem Abi aber erst mal als Erzieherin, weil man „sich da nicht verbiegen“ müsse, und begann mit Ende zwanzig in Potsdam „Kulturarbeit“ zu studieren. Die „Verbindung aus Soziologie, Kulturtheorie und Kunstphilosophie“ begeisterte sie; „das Verfahren der Dozenten, am Hosenknopf die Welt zu erklären“. Dushe hätte gern eine Uni-Karriere aufgesattelt, fiel aber in eine Hochphase des Akademiker-Prekariats und wurde stattdessen die schreibende „rechte Hand“ des Regisseurs Dieter Krockauer bei der Berliner freien Theatergruppe unitedOFFproductions.

Seit vier Jahren ist sie nun als Solo-Autorin erfolgreich: Sie gewann für nahezu jedes Stück mindestens einen renommierten Preis. Und dass man gleich mit zwei Texten zu den Berliner Autorentheatertagen eingeladen wird, hat auch Seltenheitswert. Spätestens jetzt werden sich also auch die Bühnen auf die Autorin stürzen, die das bisher noch nicht getan haben: Für Dushe eine – was sonst – ambivalente Sache. Sie freue sie sich natürlich, tue sich aber auch schwer mit Stückaufträgen. Dushe muss wohltuenderweise immer eine thematische „Dringlichkeit“ empfinden, um schreibfähig zu sein.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen