Artenschutz in Nord- und Ostsee: Das große Sterben im Meer
Ein Drittel aller Tierarten in Nord- und Ostsee ist vom Aussterben bedroht. Gegenmaßnahmen will die Bundesregierung allerdings nicht ergreifen.
Und die Überlebenschancen steigen nicht: „Starke Abnahme“ der Bestände sei der Trend für die nächsten Jahre, antwortet die Bundesregierung auf eine Anfrage der grünen Bundestagsabgeordneten Steffi Lemke zur „Situation der Meeres- und Küstentiere an Nord- und Ostsee“.
Von exakt 1.695 untersuchten Fischen, wirbellosen Tieren und Algen in deutschen Küstengewässern seien 30 Prozent als gefährdet einzustufen (siehe Kasten), und daran wird sich nach Auskunft des Bundesumweltministeriums so bald auch nichts ändern: „Für die stark gefährdeten oder vom Aussterben bedrohten Arten in Nord- und Ostsee ist nicht davon auszugehen, dass sich deren Erhaltungszustand bis 2020 verbessern wird“, lautet die lapidare Antwort.
Viel Platz für Spekulationen
Etwa ein Drittel der rund 1.700 Tierarten in Nord- und Ostsee sind in ihrem Bestand gefährdet. Vor allem betrifft dies:
Säugetiere: Schweinswale und Kegelrobben in der Ostsee
Fische: Aal, Glattrochen, Nagelrochen, Dornhai, Hundshai in Nord- und Ostsee
Vögel: Alpenstrandläufer, Mittelsäger, Rothalstaucher, Basstölpel, Gryllteiste in Nord- und Ostsee, Eisente in der Ostsee, Dreizehenmöwe und Eissturmvogel in der Nordsee
Muscheln: Europäische Auster (ausgestorben)
Das gilt auch für den Schweinswal, die einzige heimische Walart. In der östlichen Ostsee lebten nach Erkenntnissen der Bundesregierung 2013 noch „zwischen 523 und 1.906 Individuen“. Die Population sei jedoch auf niedrigem Niveau als „stabil“ einzuschätzen, so die bemerkenswerte Aussage angesichts der Bandbreite der Bestandsangaben.
In der westlichen Ostsee zwischen Rügen und Dänemark wird die Population mit etwa 18.500 Tieren angegeben, in der Nordsee gilt der Bestand mit mehr als 200.000 Tieren noch als halbwegs stabil. 2005 indes hätten dort noch mehr als 300.000 Schweinswale gelebt, teilt die Bundesregierung mit: Auch hier ist viel Platz für Spekulationen und Schätzungen.
In „ökologisch unbedenklichem Zustand“ sind nach Einschätzungen von Meeresexperten in Nord- und Ostsee lediglich die Populationen von Seehunden und einigen Möwenarten. „Die Bundesregierung kennt die dramatische Situation und bleibt dennoch untätig“, kommentiert Steffi Lemke.
Müll und Unterwasserschall
In der Tat lesen sich die Antworten des Ministeriums geradezu desinteressiert: „Die Fischerei, der Eintrag von Nährstoffen und organischem Material sowie Klimaänderungen beeinflussen signifikant den Zustand der marinen Ökosysteme.
Unter Fischereibelastungen fallen insbesondere die Beeinträchtigung der Habitate durch bodenberührende Fanggeräte sowie die Beifänge von Meeressäugern, Vögeln und anderen Meeresorganismen“, beschreibt die Bundesregierung das große Sterben. Ferner belaste Müll im Meer und am Strand die Ökosysteme, auch Unterwasserschall habe „beträchtliche negative Auswirkungen“.
Handlungsbedarf gebe es durchaus, räumt die Bundesregierung ein. So sollten für die Ostsee strengere Fischereiregeln beschlossen sowie Natura-2000-Gebiete nach EU-Recht auch als deutsche Naturschutzgebiete aufgewertet werden. Lemke hält das für wenig wirksam. So dürfe in den vorgesehenen Schutzgebieten der Ostsee „weiterhin ungehindert gefischt und Sand und Kies abgebaut werden“, rügt sie.
Nabu kritisiert Bundesregierung
„Nur in 0,002 Prozent des gesamten deutschen Meeresgebietes ist dies verboten“, rechnet sie vor. Und in den Natura-2000-Gebieten seien keine Null-Nutzungszonen vorgesehen. Wenn Deutschland in Sachen Meeresschutz auch international wieder eine Vorreiterrolle einnehmen wolle, müsse Deutschland „erst einmal selbst Flagge zeigen“.
Dabei kann die Grüne auf die Unterstützung der deutschen Umweltverbände zählen. „Mindestens 50 Prozent der deutschen Natura-2000-Gebiete in Nord- und Ostsee müssen frei von jeglicher menschlichen Nutzung sein, auch von Fischerei“, fordern Greenpeace, die Umweltstiftung World Wide Fund for Nature (WWF), der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND), der Naturschutzbund (Nabu) und fünf kleinere Meeresschutzvereine.
Die Bundesregierung müsse die Meere besser schützen, so die Forderung, doch stünden „in den Schutzgebieten in Nord- und Ostsee Wirtschaftsinteressen nach wie vor im Vordergrund“, kritisiert Nabu-Bundesgeschäftsführer Leif Miller. Der Internationale Tag des Meeres am heutigen 8. Juni sollte Anlass sein, „endlich etwas für die an unseren Küsten verschwundenen und bedrohten Arten und Lebensräume wie Schweinswal, Sandkoralle und Seegraswiese zu tun“, findet Miller.
Die Bundesregierung habe offensichtlich kein Interesse am Meeresschutz, sondern kassiere die Ziele ihrer offiziellen Artenschutzstrategie ein, kommentiert Lemke: „Das ist ein verheerendes Signal gegen die Artenvielfalt.“
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