Martín Caparrós über Hunger in der Welt: „Pornografie des Elends“
Der Schriftsteller Martín Caparrós hat lange nach Gründen für den Hunger gesucht. Dort, wo Menschen Hunger leiden, halten ihn viele für gottgewollt, sagt er.
taz.am wochenende: Herr Caparrós, es gibt so lange schon Institutionen, die Hunger bekämpfen und erforschen. Trotzdem haben Sie für Ihr 800-Seiten-Buch „Der Hunger“ fünf Jahre lang in Niger, Indien, Bangladesch, Madagaskar, Argentinien, im Südsudan und in den USA recherchiert. Warum?
Martín Caparrós: Es stimmt, es wird viel darüber gesprochen – aber auf eine Weise, die niemanden vom Hocker reißt. Die Worte „Millionen Menschen hungern“ lösen doch schon längst keine Reaktion mehr aus, wir haben uns so daran gewöhnt, dass sie zum Klischee geworden sind. „Was wollen Sie, den Hunger in der Welt abschaffen?“, ist zur sarkastischen Phrase geworden, gleichbedeutend mit: „Vergiss es!“ Mit Expertenmeinungen, Zahlen und Begriffen wie „Unterernährung“ halten wir die Katastrophe des Hungers abstrakt.
Sie gehen einfach hin und fragen die Hungernden selbst. Darauf bekommen Sie Alltagsgeschichten zu hören, die wir uns kaum vorstellen können: Etwa, dass Amena aus Bangladesch abends Steine kocht, damit ihre Kinder denken, es gäbe am nächsten Morgen etwas zu essen. Oder dass Hussena aus dem Niger entscheiden muss, wer aus der Familie verzichten muss.
Die Leser sollen eine Ahnung davon bekommen, wer sich hinter diesen 795 Millionen Hungernden verbirgt – wenn uns schon die Zahl nicht berührt. Aber dann muss mit den traurigen Geschichten auch mal Schluss sein! Ich will nicht in ihrem Elend herumstochern; die bengalische Frau habe ich nicht einmal gefragt, was ihre Kinder sagen, wenn sie am nächsten Morgen herausfinden, dass sie nichts zu essen bekommen. Sicher könnte man das in aller Breite ausführen, aber wem nützt diese Pornografie des Elends? Der Bengalin mit Sicherheit nicht.
Stattdessen stellen Sie die Systemfrage: Wie kann es sein, dass die weltweite Landwirtschaft zwölf Milliarden Menschen ernähren könnte – fünf Milliarden mehr Menschen, als es gibt – und 795 Millionen hungern? Das sind Zahlen aus dem Weltagrarbericht, der immerhin den Lebensstandard der Italiener zugrunde legt. Was ist Ihre Antwort?
Der Bericht bricht mit dem Mythos, dass es sich um ein technisches Problem handelt; es ist ein Problem der Verteilung. Das Weltwirtschaftssystem ist so organisiert, dass ein Großteil der Nahrung dafür verwendet wird, die reichsten zwei bis drei Milliarden Menschen auf sehr hohem Niveau zu ernähren. Das ist eine Schande! Um ein Kilogramm Rindfleisch herzustellen, müssen wir erst einmal zehn Kilogramm Getreide oder Soja verfüttern – Nahrung, die am Ende fehlt.
Dann ist die Frage also, warum wir nicht alle Vegetarier werden und das Getreide unter uns aufteilen?
Es ist absurd, aber wir tun nun mal nicht immer das, was uns korrekt erscheint. Ich muss gestehen, dass ich als Argentinier auch weiterhin Asado esse …
… gegrilltes Fleisch.
Und das, obwohl ich mich über die ungerechte Verteilung aufrege.
Fehlt uns die Empathie?
Hunger ist das abgelegenste Problem der Welt. Klar, jeder neunte Mensch ist davon betroffen – aber haben Sie unter Ihren Freunden jemanden, der hungert? Nein. Na also! Es sind immer andere. Das macht es leicht, wegzusehen und ein gutes Steak zu essen.
Aber die Menschheit kommt sich doch näher – unter meinen Facebook-Kontakten gibt es genug Inder, die bestimmt jemanden kennen, der jemanden kennt … Und seit wir auch im letzten deutschen Dorf mit Flüchtlingen zusammenleben, müssen wir doch einsehen, dass uns der Rest der Welt etwas angeht.
Der Hunger bleibt trotzdem weit weg: Die Flüchtlinge, die hier ankommen, gehören in ihren Ländern ja zu den Privilegierteren, sonst hätten sie die teure Reise nicht bezahlen können. Viele fliehen aus politischen Gründen, Hunger kennen auch von ihnen nur wenige.
Sie schreiben davon, wie die Hungerkatastrophe in Biafra Ende der sechziger Jahre weltweites Entsetzen auslöste. Unter dem Embargo der damaligen Militärdiktatur starben mindestens eine Millionen Menschen, die Bilder der Biafra-Kinder mit aufgeblähten Bäuchen gingen um die Welt. Über den alltäglichen Hunger in Indien regen wir uns heute hingegen gar nicht mehr auf.
Eben, weil er alltäglich ist und keine Bilder produziert. Akute Hungerkatastrophen lassen sich inzwischen zum Glück eindämmen. Die Hungertoten heute sterben nur selten daran, dass sie zwei oder drei Wochen überhaupt kein Essen bekommen haben. Sie sterben, weil sie über Jahre und Generationen hinweg zu wenig gegessen haben und ihnen die Abwehrkräfte für die kleinste Krankheit fehlen. In den Sechzigern fiel es uns auch deshalb leichter, uns aufzuregen, weil wir dachten, wir hätten eine Lösung für die Ungerechtigkeit der Welt parat. Der Sozialismus sollte es lösen. Das glaubt heute kaum noch jemand. Wer keine klare Vision hat, hat das Gefühl, seine Energie zu verschwenden.
Ihre Gesprächspartner aus der „Anderen Welt“, wie Sie das nennen, machen ihrer Wut auch keine Luft, sondern richten sie gegen sich selbst. Viele geben sich die Schuld an ihrer Armut. Manche sagen sogar, sie wünschten sich den Tod, wenn sie nicht für ihre Kinder verantwortlich wären. Warum gehen sie stattdessen nicht auf die Barrikaden?
Überraschend viele halten es für ihr gottgewolltes Schicksal und hoffen auf ein besseres Leben nach dem Tod. Außerdem sind sie so mit dem täglichen Überlebenskampf beschäftigt, dass sie keine Zeit haben, darüber nachzudenken, wer schuld an ihrer Situation ist. In Indien haben sich Generationen von Menschen an den Hunger gewöhnt; sie wissen zum Teil nicht einmal, dass sie unterernährt sind.
Der Mensch: 58, geboren in Buenos Aires, ist Journalist und Schriftsteller. Erste literarische Stücke schrieb er zu Schulzeiten, 1973 begann er für die Zeitung Noticias zu arbeiten. Als sich 1976 die Militärs in Argentinien an die Macht putschten, floh Martín Caparrós nach Frankreich und studierte an der Sorbonne in Paris, später in Madrid. Mit dem Ende der Herrschaft der argentinischen Militärjunta kehrte Caparrós nach Buenos Aires zurück.
Das Buch: Für die Großreportage recherchierte er fünf Jahre: „Der Hunger“, Suhrkamp 2015, 29,95 Euro, 844 Seiten.
Es scheint, als würden Sie keinem politischen System, keiner Organisation, Religion und keinem der Betroffenen zutrauen, das Problem des Hungers zu lösen. Warum schreiben Sie ein so umfassendes Werk, wenn Sie doch keine Hoffnung haben?
Hoffnung habe ich schon: Vor vierzig Jahren redete kaum jemand über Umweltschutz, heute muss jeder Provinzgouverneur seinen Naturschutzplan haben. Mit dem Problem des Hungers muss etwas Ähnliches passieren: Sobald wir einsehen, dass es auch unser Problem ist, werden wir Lösungen finden. Aber die Lösung kann nicht darin bestehen, dass die eine Hälfte der Menschheit den Reichtum an sich zieht und den Vereinten Nationen erlaubt, die andere Hälfte mit Almosen abzuspeisen.
Unter anderem wundern Sie sich im Buch über die Geduld der jungen Ärztin Maria, die für eine Nichtregierungsorganisation in Indien Tag für Tag versucht Leben zu retten und gar keine Zeit mehr hat, über politische Lösungen nachzudenken. Halten Sie die Arbeit von NGOs für verschwendete Energie?
Natürlich ist es wichtig, dass NGOs Menschen beim Überleben helfen. Aber sie lösen das Problem nur lokal und temporär, kleben ein Pflaster auf eine viel größere Wunde.
Hatten Sie nie das Bedürfnis, einem Gesprächspartner Saatgut oder eine Kuh zu kaufen, damit dieser eine Mensch nicht mehr hungern muss?
Eine alte Frau in Mali hat mich vor ein paar Wochen um einen Sack Reis gebeten – und ich habe nachgegeben. Aber ich mache das nur selten, weil es die Erwartungen und die Abhängigkeit nur verstärkt.
Wenn Sie eine Nichtregierungsorganisation gründen könnten, wie würde die das Problem angehen?
Wenn ich das wüsste! Mit Sicherheit würde ich den Leuten kein Essen geben, sondern die Mittel und das Wissen, um dieses selbst anzubauen.
Immer wieder fragen Sie: „Wie zum Teufel können wir weiterleben, obwohl wir wissen, dass diese Dinge geschehen?“ Wie leben Sie weiter?
Ich habe jahrelang an diesem Buch gearbeitet und spreche weiterhin darüber. Mir ist klar, dass das eine Ausrede ist. Aber mich gar nicht damit zu beschäftigen würde mir noch schwerer fallen.
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