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Zu gut für Neukölln

PERSPEKTIVEN Die Rütli-Schule wurde in der öffentlichen Wahrnehmung schnell von der „Horrorschule“ zum „Bildungsidyll“. Inzwischen gibt es jedoch andere Probleme: Jetzt ist es die Gentrifizierung des Kiezes, die den Erfolg der Schule bedroht

Von Anna Klöpper und Susanne Memarnia (Text) und Piero Chiussi (Fotos)

Wer hätte damals schon einen Pfifferling darauf gegeben, dass diese Geschichte gut ausgeht? „In vielen Klassen ist das Verhalten im Unterricht geprägt durch totale Ablehnung des Unterrichtsstoffs und menschenverachtendes Auftreten“, schrieb das Rütli-Kollegium in seinem landesweit berühmt gewordenen Brandbrief am 30. März 2006. Zack, das schlug ein: „Horrorschule“, ein „Notruf“, „Prügeln statt pauken“, titelten die Medien. Schon drei Jahre später waren die Schlagzeilen dann gänzlich andere: „Bildungsidyll“, hieß es und gar „Das Wunder von Neukölln“. Als 2014 die ersten 18 SchülerInnen Abitur machten – davon bis auf einen alle mit Migrationshintergrund –, war das vielen Medien wiederum Artikel wert.

Die Geschichte ging nicht nur einigermaßen gut aus, man könnte auch sagen, es gab geradezu ein medial zelebriertes Happy End. Nur warum? In den Folgejahren gab es immer mal wieder vergleichbare Hilferufe an Schulen, zuletzt im Januar an der Mozart-Grundschule in Hellersdorf, als Eltern von respektlosen, prügelnden Schülern und verängstigten Lehrern berichteten. Die mediale Aufmerksamkeit hält sich jedoch in Grenzen. Und selbst wenn sich etwas zum Positiven verändert, vom „Bildungsidyll“ spricht hernach niemand.

Was also, mit dem Abstand von zehn Jahren gefragt, ist das Erfolgsmoment Rütli? Wenn man von der Weserstraße durch das Schultor zum ersten Mal auf den Campus tritt, ist man beinahe enttäuscht. Rechts der Jugendclub Manege, die bunte Fassade bräuchte mal neue Farbe. Zur Linken duckt sich ein unscheinbar beige gestrichenes Schulgebäude, der Wachdienst schaut gelangweilt der Müllabfuhr beim Versuch zu, durch die Einfahrt zu rangieren. In den düsteren Fluren riecht es nach Schule, also ein bisschen muffig und ein bisschen nach Putzmittel auf abgetretenem Linoleum. Man weiß auch nicht so genau, was man eigentlich erwartet hatte – mehr Glanz? Vielleicht haben die Erfolgserzählungen die Wirklichkeit ein Stück glamouröser gemacht, als sie tatsächlich ist.

Der Campus-Gedanke

Nüchtern sind auch die Erklärungen, die Schulleiterin Cordula Heckmann auf die Frage findet, warum die Rütli-Schule zur Erfolgsstory wurde. „Ich glaube, wir haben hier ziemlich schnell erkannt, dass die Schule alleine für sich die Probleme nicht lösen kann“, sagt Heckmann. Zum Kräutertee aus der Plastikthermoskanne serviert sie Stichwörter, die gut klingen: den Sozialraum mitdenken, Bildungsbiografien begleiten. Was heißt das, Frau Heckmann? „Nehmen Sie zum Beispiel die beiden Kitas, die bei uns auf dem Campus-Gelände sind. Im Prinzip fängt unsere Arbeit schon dort an.“ Man dokumentiere recht aufwendig regelmäßig die Lernentwicklung der Kitakinder – etwas, das sich in der Grundschule fortsetze.

Bei den Eltern komme dieser Campus-Gedanke, das Begleitende, die Wiedererkennbarkeit in der Pädagogik, gut an. Tatsächlich ist die Grundstufe der Rütli-Schule – wie auch die Sekundarstufe – mittlerweile übernachgefragt: Etwa 20 angehende GrundschülerInnen habe man im vergangenen Jahr abweisen müssen, sagt Heckmann. Die Leiterin der Kita Villa Kunterbunt auf dem Gelände, Bea Salinger, berichtet von Eltern, die ihre Kinder in der Kita anmelden mit dem Wunsch, sie später auch hier auf dem Campus einzuschulen: „Wegen des Campus-Gedankens, dass hier alle Bildungseinrichtungen des Kiezes vereint sind.“

Oder das sogenannte forschende und entdeckende Lernen, sagt die Schulleiterin, dessen wesentliches Prinzip es sei, dass die Kinder selbst herausbekommen sollen, was sie interessiert. Damit habe man gerade bei Kindern aus sogenannten bildungsfernen Elternhäusern – „anregungsarme Familien“ nennt sie Schulleiterin Heckmann – gute Erfahrungen gemacht. Seit einigen Jahren gibt es mit der Stadtteillernwerkstatt auch einen eigenen Ort für diese Art von Pädagogik auf dem Campus – der auch von den Kitas mitgenutzt wird.

Rütli-Direktorin Cordula Heckmann über ihre Schüler:„Es sind die gleichen wie zuvor, aber wir schaffen es, ihnen eine Perspektive zu geben“

Man halte nun mal nichts von closed jobs, sagt die Schulleiterin. Deshalb säßen auch halbjährlich alle Akteure, die der Rütli-Campus angeht, bei den sogenannten politischen Steuerungsrunden mit am Tisch: die Senatsverwaltungen für Bildung und Stadtentwicklung, der Bezirk und die Leute von Campus Bildung im Quadrat, die die Pädagogische Werkstatt in der benachbarten Friedelstraße betreiben und leistungsstarke SchülerInnen mit Stipendien belohnen. Wenn die derzeit bis 2020 terminierten Baumaßnahmen beendet sind, sollen außerdem eine Berufswerkstatt, ein Stadtteilzentrum, das Jugendamt, der Zahnärztliche Dienst und die Volkshochschule auf das Gelände ziehen. Rund 33 Millionen Euro kosten die Bauvorhaben laut Bezirksamt, fünf Mil­lio­nen Euro kommen aus EU-Fördermitteln.

Zur Lage der Schule

Dennoch: Es ist die gleiche Schülerklientel, die heute hier Abitur macht – und die vor zehn Jahren als unbeschulbar galt. Der Anteil von SchülerInnen mit Mi­gra­tions­hin­ter­grund liegt bei 88 Prozent, 90 Prozent sind lernmittelbefreit – das heißt, ihre Familien sind auf Leistungen des Jobcenters angewiesen. Erreicht man die allein mit pädagogischen Werkstätten, mit einem netten Campus und regelmäßigen Analysegesprächen zur Lage der Schule?

Ein wesentlicher Wendepunkt, sagt Schulleiterin Heckmann, sei 2008 der Zusammenschluss der Heinrich-Heine-Realschule, der Rütli-Hauptschule und der Franz-Schubert-Grundschule zur Gemeinschaftsschule mit eigener gymnasialer Oberstufe gewesen – eine Aufwertung gegenüber dem Hauptschulstatus, der zwei Jahre später mit der Berliner Schulstrukturreform dann ohnehin offiziell abgeschafft wurde. Es geht ums Perspektivenschaffen: Die Schulleiterin berichtet von regelmäßigen „Hausbesuchen“, die die KollegInnen bei ihren SchülerInnen machen, von halbjährlichen Schüler-Eltern-Lehrer-Gesprächen, von einem verjüngten Kollegium, für das die Vergangenheit keine Rolle mehr spiele. Ja, es seien die gleichen Schüler wie zuvor, „aber wir schaffen es, ihnen eine Perspektive zu geben“, sagt Heckmann.

„Es ist eine bestimmte Haltung“, sagt Sascha Wenzel, Geschäftsführer der Freudenberg-Stiftung, die die Pädagogische Werkstatt seit 2007 fördert. „Wir haben hier vor allem Kinder aus einkommensschwachen Familien oder aus Familien mit einer Einwanderungsgeschichte – aber wir sagen, das sind genau die richtigen Kinder, mit denen wollen wir Schule machen.“ Das finde zum Beispiel auch Anerkennung in der Tatsache, dass Arabisch als zweite Fremdsprache im Abitur gewählt werden kann. „Die Schüler merken, ob wir ihnen etwas zutrauen – oder ob wir sie abqualifizieren aufgrund ihrer Herkunft.“ Letzteres produziere „nur gegenseitige Verachtung“.

Ohnehin gibt es da inzwischen zwei verschiedene Schulen auf dem Campus Rütli. Zum einen die Sekundarschule, die alle meinen, wenn sie von „Rütli“ sprechen. Und dann ist da aber auch die Grundschule, wo inzwischen rund 40 Prozent deutsche Kinder angemeldet sind, die Quote der lernmittelbefreiten SchülerInnen liegt bei vergleichsweise niedrigen 56 Prozent. Die Gentrifizierungstendenzen, die der Reuterkiez rund um Weser- und Pannierstraße inzwischen aufweist – die veganen Cafés, die Bioläden, die bis an das Schulgelände herangerückt sind –, sie spiegeln sich in der Klientel wider, die die Kitas und die Grundstufe der Rütli-Schule besucht.

Die Rütli und der Kiez

Rund 850 SchülerInnen hat der Campus Rütli derzeit. Vier LehrerInnen aus dem Kollegium von 2006 unterrichten noch an der Schule.

Die Zahl der AbiturientInnen am Campus Rütli steigt: 2014 waren es 18, 2015 schon 23 SchülerInnen.

Der Anteil von Schülern nichtdeutscher Herkunft ist in den letzten fünf Jahren gesunken und liegt derzeit bei 81 Prozent. Zum Vergleich: Bei den beiden anderen Schulen im Kiez, der Elbe-Grundschule und dem Ernst-Abbe-Gymnasium, sind es laut der Senatsverwaltung für Bildung jeweils über 90 Prozent. Hier haben die Zahlen stagniert oder sind, wie im Fall des Gymnasiums, gestiegen.

Im Reuterkiez haben laut Amt für Statistik Berlin-Brandenburg rund die Hälfte der 28.000 BewohnerInnen einen Migra­tions­hintergrund. Rund 20 Prozent bezogen Ende 2014 Sozialleistungen. (akl)

Nachmittags bei den Eltern auf dem nahe gelegenen Spielplatz am Weichselplatz. Mit der Grundschule, sagen viele Eltern dort, biodeutsche wie migrantische, wolle man es gerne versuchen. Alle wollen gehört haben, dass „die Rütli“ jetzt eine gute Schule sei. Zwei Mütter, beide Akademikerinnen, sorgen sich sogar, dass es schwierig sein könnte, ihre Kinder auf der Rütli anzumelden – sie wohnen im Einzugsbereich der Grundschule in der Elbestraße. „Aber die ist völlig indiskutabel“, sagt die eine. Tatsächlich scheint diese Schule unter den jungen, deutschen Mittelschichtfamilien im Kiez keine Lobby zu haben: 80 Prozent der Kinder an der Elbe-Schule kommen aus einkommensschwachen Familien, 91 Prozent haben einen Migrationshintergrund.

„Wir sehen diese Entwicklung und sehen sie erst mal positiv: Heterogenität in der Schülerschaft ist gut“, sagt Schulleiterin Heckmann. Natürlich müsse man aber auch beobachten, „ob sich da nicht langfristig wieder etwas entmischt – in eine bisher hier nicht gekannte Richtung“. Auch Kitaleiterin Salinger berichtet von einem „totalen Klientelwechsel“: Inzwischen spreche die Hälfte der Kinder Deutsch als Muttersprache, bis vor einigen Jahren waren 98 Prozent der Kinder nichtdeutscher Herkunft.

Veränderungen im Kiez

In der Grundschule zeigen sich die Veränderungen im Kiez deshalb so direkt, weil – anders als bei den frei wählbaren weiterführenden Schulen – das Wohnortprinzip gilt. Ob die jetzigen Grundschüler auch die zukünftigen Sekundarschüler werden, wird sich erst noch zeigen. Aktuell wechsle jedenfalls etwa die Hälfte der Rütli-GrundschülerInnen an die Sekundarstufe auf dem Campus, sagt Heckmann. Und bei den Infoabenden für die Anmeldungen zur Sekundarstufe, berichtete die Schulleiterin, säßen ihr „die gleichen Eltern wie auch vor zehn Jahren gegenüber“.

Könnte sein, dass das noch eine Weile so bleibt. Die Spielplatzeltern vom Weichselplatz jedenfalls finden: Rütli als Grundschule ja, als weiterführende lieber nicht. Denn, so findet ein Enddreißiger mit zwei blonden Kindergartenkindern: „Bei den Oberschülern gibt es mir immer noch viel zu viele Volldeppen.“

Klischees, gegen die Osman Tekin seit Jahren ankämpft. Tekin leitet die Sozialarbeit im Jugendclub Manege. Es gibt eine Theaterbühne, ein professionelles Tonstudio, eine Mädchengruppe, Fußballtraining am Wochenende. Tekin erzählt von dem letzten Theaterstück, das er mit den Jugendlichen entwickelt hat. Thema: Parallelgesellschaften. „Wie sich der Kiez hier verändert hat, das ist ein ganz wichtiges Thema für die Schüler“, sagt Tekin. „Die machen sich einen Kopf darüber, die fragen: Warum müssen meine Freunde wegziehen, und wer sind diese Leute, die da jetzt in den Cafés sitzen?“

Etwa zehn Familien seien in den letzten zwei Jahren weggezogen, weiter raus in Richtung Köllnische Heide, weil die Mieten im Kiez zu teuer geworden seien, erzählt Tekin. „Das Problem ist, dass wir diese Kinder dann meist für unseren Jugendclub am Nachmittag verlieren – sie fahren nach der Schule gleich nach Hause, weil der Weg weit ist.“

Tekin erzählt, dass sie einmal den Versuch gemacht hätten, „die da in den Cafés“ ein bisschen besser kennenzulernen. Als die Mittel für die Hausaufgabenhilfe gestrichen wurden, habe man kurzerhand 150 Flyer gedruckt und sie dem studentischen Publikum zum Milchkaffee in die Hand gedrückt. Niemand meldete sich auf den Aufruf. Eine Perspektive sei das nicht, findet Tekin.

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