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Kolumne Gott und die WeltIn der „Flüchtlingskrise“

Kolumne
von Micha Brumlik

Der deutsche Rechtsstaat ist für alle da: Das Grundgesetz erklärt die „Würde des Menschen“, nicht die „Würde der Deutschen“ für unantastbar.

Am Ende zählen weder Religion noch Blut, sondern die Staatsbürgerschaft. Foto: dpa

I n einem Punkt ist der gegen Kanzlerin Merkel aufbegehrenden Opposition Recht zu geben: Bei der Bewältigung der sogenannten Flüchtlingskrise geht es nicht nur um pragmatische Fragen, die durch angemessenes Verwaltungshandeln und europäische Kooperation zu lösen wären. Tatsächlich geht es um sehr viel weitergehende normative Fragen; am Ende um nicht mehr und nicht weniger als darum, wie sehr ein Staat, der sich den von ihm kodifizierten und in seine Verfassung aufgenommenen Menschenrechten verpflichtet sieht, noch klassischer Nationalstaat sein kann.

In Frage steht tatsächlich, ob und wie weit die Bundesrepublik noch der Staat der (ethnischen) Deutschen ist oder ob sie nicht seit ihrer postnationalsozialistischen Gründung ein Staat ist, der in gewisser Weise einen weltbürgerlichen (I. Kant) Zustand teilweise vorweggenommen hat. Das jedenfalls sind die Fragen, die ein von dem konservativen Kölner Staatsrechtler Otto Depenheuer herausgegebener Sammelband kontrovers erörtert, der gerade erschienen ist.

In diesem – „Der Staat in der Flüchtlingskrise. Zwischen gutem Willen und geltendem Recht“ betitelten – Band wird gefragt, ob es eine rechtliche Grenze für die Veränderung der ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung der Bundesrepublik gibt oder ob diese möglichen rechtlichen Grenzen nicht allemal durch den ersten Artikel der deutschen Verfassung, des Grundgesetzes, je schon überwunden sind. Zur Erinnerung dieser erste Artikel:

(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder in der Welt. (3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“

Die Bürgerrechte zählen, nicht die Herkunft

Schon in der Asyldebatte im Jahr 1993 ist darauf hingewiesen worden, dass Artikel 1 von der „Würde des Menschen“, nicht aber von der „Würde des Deutschen“ handelt. Kann das aber, so nun die staatsrechtlichen Gegner Merkels, bedeuten, dass der ursprüngliche Verfassungsgeber, nämlich das deutsche Volk, aufgelöst wird? Heiße es doch in der Präambel des Grundgesetzes: “Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“

Merkels staatsrechtliche Gegner argumentieren, dass eine weit gefasste Aufnahme und Integration von Asylbewerbern, Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen den Charakter der Bevölkerung des Landes so weit verändern könne, dass damit auch der Verfassungsgeber selbst, das „Deutsche Volk“, verändert werde. Zwar räumen sie ein, dass dies grundsätzlich zulässig sei, beharren aber darauf, dass dies nur durch eine Verfassungsänderung, nicht aber durch einfache Gesetze oder durch demokratisch nicht wirklich legitimiertes Verwaltungshandeln möglich sei. Kann es also sein, so wird gefragt, dass die Deutschen durch ihre Verfassung mitsamt ihrem ersten Artikel von Anfang an ihre ethnische Homogenität preisgegeben haben – ohne dies jedoch schon 1949 gewusst oder doch wenigstens geahnt zu haben?

Der Autor dieser Zeilen vertritt seit Langem die Meinung, dass jede Person „Deutsche®“ ist, die staatsrechtlich gesehen BürgerIn der Bundesrepublik ist – gleichviel welcher Herkunft. Daher bin ich davon überzeugt, dass die sogenannte „ethnische“ Zusammensetzung des Staatsvolks rechtlich und moralisch gesehen durchaus auch ohne Verfassungsänderung veränderbar ist. Das zu entfalten ist in einem Kommentar gleichwohl nicht der Ort.

Worauf lediglich hingewiesen werden sollte, war, dass weder der wohlfeile, weil kurzfristig nicht umzusetzende Wunsch nach „Bekämpfung der Fluchtursachen“, noch karitatives Handeln allein der gegenwärtigen Krise gerecht werden: In der Tat geht es derzeit um nicht mehr und nicht weniger als um eine Neubestimmung dessen, was der demokratische Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland nicht nur in Europa, sondern auch in der globalisierten Welt sein wird.

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Autor und Kolumnist
1947 in der Schweiz geboren, seit 1952 in Frankfurt/Main. Studium der Philosophie und Pädagogik in Jerusalem und Frankfurt/Main. Nach akademischen Lehr- und Wanderjahren von 2000 bis März 2013 Professor für Theorien der Bildung und Erziehung in Frankfurt/Main. Dort von 2000 bis 2005 Direktor des Fritz Bauer Instituts – Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte des Holocaust. Forschung und Publikationen zu moralischer Sozialisation, Bildungsphilosophie sowie jüdischer Kultur- und Religionsphilosophie. Zuletzt Kritik des Zionismus, Berlin 2006, Sigmund Freud. Der Denker des 20. Jahrhunderts, Weinheim 2006 sowie Kurze Geschichte: Judentum, Berlin 2009, sowie Entstehung des Christentums, Berlin 2010.Darüber hinaus ist er Mitherausgeber der „Blätter für deutsche und internationale Politik.“
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6 Kommentare

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  • Das ist mal wieder typisch! Die Bewohner dieses Landes hatten beinah 70 Jahre Zeit sich zu überlegen, was wäre, wenn irgendwer das abstrakte Bekenntnis zur Menschenwürde tatsächlich praktisch umzusetzen wünscht. Und, haben sie? Natürlich nicht. Erst jetzt, wo sie von den Ereignissen getrieben werden, bequemen sich die großen Geister, die grauen Zellen anzuschalten. Na, besser spät als nie!

     

    Was also könnte Deutschland sein in Europa und in einer globalisierten Welt? Ein Nationalstaat, werden viele sagen. Und dabei übersehen, dass Nationalstaaten reine Konstrukte sind, theoretische Modelle, die als solche der jeweiligen Realität nur annähernd entsprechen. Nirgends auf der Welt, nicht einmal auf Inseln (Japan) oder in abgeschotteten Diktaturen (Nordkorea) ist das Ideal des Nationalstaates Realität. Dazu nämlich müsste das Staatsgebiet von ALLE Angehörigen eines Volkes und auch NUR von den Angehörige dieses Volkes oder Kulturkreises bewohnt werden.

     

    Nein, Deutschland kann kein idealer Nationalstaat werden. Dazu gibt es zu viele Deutsche außerhalb des Landes – und zu viele Ausländer innerhalb. Staatsrechtlern reicht es deshalb, wenn Nationalstaaten "die wesentlichen Teile des staatstragenden und meist auch namensgebenden Volkes in sich vereinen". Fragt sich, wer "wesentlich" ist. Wer deutsch spricht? Gehört dann Bayern noch dazu? Wer die Kultur teilt? Welche genau? Etwa die rheinische? Wer ethnisch homogen ist? Was ist dann mit Berlin?

     

    Fragen wir anders: Was wäre die Alternative? Den Gegensatz zum Nationalstaat bildet der Vielvölkerstaat, verrät das Lexikon. Der vereint innerhalb seines Staatsgebietes Angehörige mehrerer Nationen. Wenn die zusammen leben WOLLEN, spricht man von einer Willensnation (Schweiz, USA). Wobei auch die Willensnation nur ein Konstrukt ist, das der Realität mehr oder weniger nah kommt. Nicht jeder US-Amerikaner will, dass es auch schwarze Amerikaner gibt.

    • @mowgli:

      Komentar Teil II:

       

      Kompliziert wird es, wenn in Gebieten, die von mehreren Völkern bewohnt sind, der Wille, eine Nation zu sein, verloren geht. Dann gibt es, je nach Kräfteverhältnis, entweder Krieg (Ex-Jugoslawien) oder permanente Anschläge (Israel). Dahinter steckt die (irrige) Idee, dass alles besser wird, sobald man ganz allein entscheiden darf. Zum Beispiel darüber, wann man sich, seine Interessen oder seine Kultur als unterdrückt, unterrepräsentiert oder bedroht ansehen darf und wie dagegen vorzugehen ist.

       

      Überhaupt: Souveränität - auch so ein Konstrukt. Wir alle wissen eigentlich, dass nicht mal Ein-Mann-Staaten völlig souverän wären. Entscheidend also ist nicht so sehr, WAS Deutschland sein wird, soll, kann oder darf, sondern WIE. Fakt ist: Will es ein Staat bleiben, müssten sich seine Bewohner weitgehend einig sein darüber, dass sie nicht unterdrückt, unterrepräsentiert oder gar in ihrer Existenz bedroht sind. Der Staat bricht sonst auseinander. Dabei ist die Frage nicht, ob es sich als National- oder als Vielvölkerstaaten versteht. Die Frage ist nur, wann es so weit ist.

       

      Merke: Entweder wird Deutschland all seinen Einwohnern gleichermaßen gerecht, oder es hört früher oder später auf, als Staat zu existieren. Womöglich reicht es also völlig aus, tatsächlich die Würde ALLER Menschen für unantastbar zu halten, um Deutschlands Zukunft zu sichern. Auch, wenn Souveränität dann bedeuten würde, dass alle mitentscheiden dürfen, nicht nur die behördlich dazu Ermächtigten. Dazu, allerdings, müssten "die Deutschen" aller Art Mut haben und etwas Vertrauen in die eigene Kraft. Wenn ihre Zukunft an etwas scheitert, ist es das: Sie haben häufig nicht genügend Selbstvertrauen angesichts all der Perfektionsansprüche, denen sie sich aussetzen.

  • Einen zu recht verfassungsrechtlich "aufgezogenen" Beitrag mit ansatzweise klugen Überlegungen mit einem

    Producteplacement für einen recht euphemistisch als konservativen & vor allem & zutreffend Staatsrechtler!! - das muß man erst mal bringen.

    kurz - Geht´s noch?!

     

    Anders gefragt - Wo lassen Sie lesen?

    Beim dezidierten Apologeten des Kronjuristen der Nazis -

    Carl Schmitt - "Der Führer schützt das Recht"!

    (In der VDStRL - jedenfalls wurde an diesem Herrn die bekannte

    Spitz-auf Knopf-Frage Freiburger Schule vs Carl-Schmitt-Fronde festgemacht.)

     

    vgl. Die Zeit - Schäubles Nachtlektüre https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=1&cad=rja&uact=8&ved=0ahUKEwjKl9n_pZ_LAhWBApoKHW06DAUQFggcMAA&url=http%3A%2F%2Fhttp://www.zeit.de%2F2007%2F33%2FSchaeubles_Nachtlektuere&usg=AFQjCNHuAlyg-uc5aqmmYNkARcCJIQD9eg&bvm=bv.115339255,d.bGs

    &

    Noch deutlicher selbst - Die Welt - Schaeubles-schauderhafte-Nachtlektüre - https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=2&cad=rja&uact=8&ved=0ahUKEwjKl9n_pZ_LAhWBApoKHW06DAUQFggjMAE&url=http%3A%2F%2Fhttp://www.welt.de%2Fwelt_print%2Farticle1418727%2FSchaeubles-schauderhafte-Nachtlektuere.html&usg=AFQjCNHSuUpDmI7_TY5odRXCc2thdQ0e0A&bvm=bv.115339255,d.bGs

     

    Schäubles schauderhafte Nachtlektüre - ist hier via Sammelband ja

    Nicht echter Gegenstand einer dezidierten inhaltlichen Auseinandersetzung;

    Die hier im übrigen im Ergebnis ohnehin eher flach ausfällt.

    • @Lowandorder:

      schon lustig, Ihre frage.

      was dachten Sie denn, wo ein (wenn auch liberaler) zionist liest/lesen läßt, so er ein (wenn auch liberaler) zionist bleiben möchte?

      bingo! da, wo dem *law of return* keine gefahr droht.

      nach den glückwünschen zu Judith Butlers 60. http://www.taz.de/60-Geburtstag-von-Judith-Butler/!5280144/ war und ist (für jeden nachlesbar) von Brumlik nichts anderes zu erwarten als moralismus gegenüber allen nur nicht dem *one and only*

    • 2G
      25726 (Profil gelöscht)
      @Lowandorder:

      Danke für die zwar schwer verdaulichen, aber aufschlußreichen Links. Ich hatte diese Episode des Dr. Schäuble gar nicht mehr auf dem Schirm.

      • @25726 (Profil gelöscht):

        ;)

         

        Nur - Episode??

        Nö - Das hat Methode;((