piwik no script img

Das Dorf der Neinsager

Seit fünf Jahren demonstrieren die Menschen in der Gemeinde Ballyhea gegen die Banken-Rettungspolitik. Als unabhängiger Kandidat will einer der Aktivisten nun ins Parlament

Die unverzagten Demonstranten aus Ballyhea bei einem Gastauftritt im benachbarten Charleville. Im schwarzen Mantel: der Kandidat Diarmuid O’Flynn Foto: Ralf Sotscheck

Aus Ballyhea Ralf Sotscheck

Die zwanzig Demonstranten laufen schnell, sehr schnell. Vom kleinen Platz gegenüber der Bank im südirischen Charle­ville bis zum Kreisverkehr und wieder zurück dauert es nur zehn Minuten. Dann packen sie ihre Transparente, auf denen „Ballyhea says No“ steht, ein und fahren nach Hause. „Es ist die kürzeste Demonstration aller Zeiten“, sagt der Organisator Diarmuid O’Flynn, „aber auch die am längsten währende.“

Zum ersten Mal demons­trier­ten die Leute aus Ballyhea vor fünf Jahren, und seitdem sind sie jeden Sonntag auf die Straße gegangen, meist in Ballyhea, manchmal – wie vorigen Sonntag – im benachbarten Charle­ville. Kurz vor den Wahlen 2011 hatte der Oppositionspolitiker Michael Noonan versprochen, dass seine Partei, Fine Gael, keine Steuergelder für die Bankenrettung zur Verfügung stellen würde. „Ich wählte Fine Gael daraufhin“, sagt O’Flynn. „Kaum war das Wahlergebnis bekannt, da nahmen sie das Versprechen zurück. Sie begingen Verrat, bevor sie überhaupt im Amt waren. Ich könnte mich totärgern, dass ich sie gewählt habe.“ Als Finanzminister hat Noonan die Maßgaben der Troika getreulich umgesetzt, ein Sparhaushalt folgte dem nächsten.

Für die am Freitag anstehenden Parlamentswahlen kandidiert O’Flynn daher selbst. Er ist parteilos, der Wahlkreis Nord­west-Cork, zu dem Ballyhea gehört, stellt drei Abgeordnete, die nach dem komplizierten irischen Wahlsystem (siehe Kasten) bestimmt werden. „Es ist der konservativste Wahlkreis im Land“, sagt O’Flynn. „Der Bürgerkrieg hat hier nie aufgehört.“

Damals, 1922, bekämpften sich Befürworter und Gegner des Vertrags mit Großbritannien, der zwar eine Teilunabhängigkeit sicherte, aber auch die Teilung des Landes festschrieb. Der Bürgerkrieg zerriss Familien und Gemeinden. Aus den damaligen Kontrahenten sind die konservativen Parteien Fianna Fáil (Soldaten des Schicksals) und Fine Gael (Stamm der Gälen) hervorgegangen, die seitdem abwechselnd regieren, seit den neunziger Jahren dafür aber einen Koalitionspartner benötigen. In O’Flynns Wahlkreis sind bis auf ein einziges Mal nur Kandidaten einer der beiden großen Parteien gewählt worden.

O’Flynn glaubt, dass sich das diesmal ändern wird. „Die Leute haben die Nase voll von diesen Parteien“, sagt er, „das habe ich im Wahlkampf gemerkt.“ O’Flynn stammt aus Ballyhea, einer ausgedehnten Gemeinde mit rund 1.000 Einwohnern an der Hauptstraße von Limerick nach Cork. Auf Irisch heißt der Ort Baile Uí Shé, was „O’Sheas Stadt“ bedeutet.

Vor dem Ortseingang hängt eines von O’Flynns Wahlplakaten an einer Kreuzung. Es enthält viel Text, den man im Vorbeifahren gar nicht lesen kann. „Menschen, die täglich zur Arbeit fahren, können ja jedes Mal eine Zeile lesen“, sagt der 62-Jährige und zeigt auf das Foto. „Es wurde voriges Jahr bei der Hochzeit eines Freundes aufgenommen“, sagt er. „Ich trage sonst nie Anzug und Krawatte.“ Auch der Mittelscheitel ist nicht mehr so akkurat wie auf dem Bild. Aber der lange Schnurrbart und die rechteckige Brille stimmen.

Zur Sonntagsmesse um 11 Uhr ist die Kirche voll. O’Flynn drückt den Kirchgängern nach der Messe ein Flugblatt in die Hand. Hinter der Kirche liegt eine Sozialbausiedlung. Fährt man an der Siedlung vorbei, kommt man zu einem beschrankten Bahnübergang. Die Schranke wird vom Schrankenwärter mit der Hand bedient, wenn der Zug von Limerick nach Cork oder in umgekehrter Richtung kommt.

Der Weg in die Politik

Auf der anderen Seite des Übergangs zweigt an der großen, grauen Grundschule eine schma­le Straße ab und führt bergauf zu einem großen Haus. O’Flynn, der früher Bau­in­ge­nieur war, hat es selbst entworfen und gebaut. „Damals schrieb ich nebenbei als freier Journalist Berichte für den Cork Examiner über Hurling, den irischen Nationalsport.“ Als das Haus 1998 fertig war, bot ihm die Zeitung eine feste Stelle an. Seit anderthalb Jahren ist O’Flynn jedoch Parlamentssekretär für den parteilosen Europaabgeordneten ­Luke Flanagan. Sie hatten sich kennengelernt, weil Flanagan ihre Kampagne unterstützt.

„Unsere Kampagne ist aus der Wut geboren“, sagt O’Flynn. „Als mir klar wurde, dass Fine Gael die Politik der vorherigen Regierung nahtlos weiterführen und die Banken mit Milliarden Steuergeldern retten würde, rief ich Freunde und Nachbarn an. Ich kannte ja genügend Leute vom Hurling.“ Sie bastelten ein Schild mit dem Slogan „Ballyhea says no“ und liefen damit die Straße auf und ab. „Wir glaubten, dass die Medien das aufgreifen müssten. Dadurch würde eine Massenbewegung entstehen, die Regierung würde hinweggefegt und die Zahlungen an die Banken würden eingestellt.“

Es dauerte ein Jahr, bis ihnen dämmerte, dass das nicht geschehen würde. „Also beschlossen wir, etwas zu unternehmen“, sagt O’Flynn. „Fünfzehn Leute aus unserer Gruppe flogen nach Frankfurt, wo wir die Ballyhea-Thesen im Stile Martin Luthers an das Haus der Europäischen Zentralbank nageln wollten. Das ging nicht, weil das Gebäude aus Glas ist, und so mussten wir die Blätter mit Tesafilm ankleben.“

Ab und zu kamen Angestellte der EZB heraus und sprachen mit ihnen. „Wir erklärten ihnen, dass nicht Irland unter den Rettungsschirm geschlüpft ist, sondern Irland den Rettungsschirm für die europäischen Banken aufgespannt hat“, sagt O’Flynn. „Wir zahlen die Spekulationsverluste der deutschen, britischen, irischen, französischen und US-Banken. Einige Mitarbeiter der EZB fanden auch, dass das ungerecht ist.“ Ein anderes Mal flog die Gruppe nach Brüssel und redete mit Vertretern der EU-Institutionen, auch der stellvertretende Chef der irischen Zentralbank empfing sie. Geändert hat sich nichts, die Regierung hat lediglich die Zahlungsfrist bis zur Mitte des Jahrhunderts verlängern lassen. Die Bankenhilfen haben die irischen Staatsschulden pro Kopf um 17.000 Euro erhöht.

Wahlsystem und Prognose

Übertragbare Einzelstimmgebung: Irland wählt nach dem System der proportionalen Repräsentation. Die Wähler geben den Kandidaten Nummern in der Reihenfolge ihrer Präferenz. Überschreitet der Kandidat Nummer eins die zum Einzug ins Parlament erforderliche Quote (Zahl der Wähler geteilt durch Anzahl der Sitze plus 1), werden die überzähligen Stimmen auf den Kandidaten zweiter Wahl übertragen. Erreicht dieser den­noch nicht die Quote, wird der schwächste Kandidat von der Liste eliminiert, und seine Stimmen werden verteilt – und so weiter. So müssen die Wahlzettel in einigen Fällen ein Dutzend Mal gezählt werden, bis die Parlamentarier feststehen. Die Auszählungen sind öffentlich, und manchmal geht es zu wie im Fußballstadion, wenn die Anhänger ihren Kandidaten anfeuern.

Umfrage: Eine aktuelle Prognose der Irish Times sieht die bisherige Regierungspartei Fine Gael bei 28 Prozent (minus 8 Prozent gegenüber der Wahl von 2011). Ebenfalls bei 28 Prozent liegen die Unabhängigen (plus 15). Die liberale Fianna Fáil käme auf 23 Prozent (plus 6), die linksgerichtete Sinn Féin auf 15 Prozent (plus 5). Labour würde im Vergleich zur vergangenen Wahl auf ein Drittel der Stimmen zusammenschrumpfen und käme auf 6 Prozent (minus 13).

„Deshalb bin ich seit der ersten Ballyhea-Demonstration da­bei“, sagt Frances O’Brien. Sie ist 80 Jahre alt und hat an kaum einem Sonntag gefehlt. „Ich mache das für unsere Kinder und Enkelkinder“, sagt sie. „Sie werden es schlechter haben als wir, weil vor allem beim Bildungs- und Gesundheitswesen gekürzt wurde.“

Die Regierungskoalition aus Fine Gael und Labour bejubelt hingegen den Aufschwung, sagt sie: „Die Zinsen sind zur Zeit niedrig, aber lass sie um nur ein Prozent steigen, dann sitzen wir wieder in der Tinte.“ 88 Prozent des Wachstums werden von ausländischen Multis erwirtschaftet, aber davon habe Irland nichts, weil diese kaum Steuern zahlen und die Profite exportieren.

„Wir verzeichnen derzeit Rekorde bei Suiziden, der Emigration, den Wartelisten in Krankenhäusern für Operationen, der Obdachlosigkeit und der Kinderarmut“, sagt O’Flynn. „Hundert Jahre, nachdem Menschen beim Osteraufstand ihr Leben für die Freiheit Irlands gaben, haben wir sie wieder hergeschenkt und uns der EU unterworfen.“ Wenn Premierminister Enda Kenny wiedergewählt werde, wolle er auswandern, sagt O’Flynn.

Die Meinungsumfragen deuten aber darauf hin, dass er bleiben kann. Fine Gael liegt zwar mit 28 Prozent fünf Prozentpunkte vor Fianna Fáil und 13 vor Sinn Féin, doch für eine Neuauflage der Koalition wird es nicht reichen, denn Labour muss am Freitag mit verheerenden Verlusten rechnen. Die Partei liegt bei 6 Prozent. In Nordwest-Cork hat sie gar keinen Kandidaten aufgestellt. Fine Gael und Fian­na Fáil schicken jeweils zwei Leute ins Rennen, Sinn Féin einen. Hinzu kommen acht parteilose Kandidaten. Landesweit liegen die Unabhängigen bei Meinungsumfragen bei 28 Prozent.

Ob O’Flynn dazugehören wird, ist ungewiss. Er glaubt, seine Chancen stehen nicht schlecht. „Eine Sensation wäre es schon“, räumt er ein. „Ob ich gewählt werde oder nicht, ist aber nebensächlich. Wichtig ist, dass mindestens 30 unabhängige Abgeordnete gewählt werden, die unseren Kampf ins Parlament tragen.“ Dann schreibt „Ballyhea says no“ vielleicht doch noch Geschichte.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen