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Beeindruckt vom Mut der Frauen

NS-Terror Sarah Helm stellte in der Topographie des Terrors ihr Buch „Ohne Haar und ohne Namen“ über das KZ Ravensbrück vor

Etwa 90 Kilometer nördlich von Berlin, in der Gemeinde Ravensbrück in Brandenburg, gab es einen Ort, an dem Frauen andere Frauen misshandelten, erniedrigten und ermordeten. Das KZ Ravensbrück war das einzige Konzentrationslager, das die Nazis speziell für Frauen bauten. In dem 1939 eröffneten Lager hielten die Nazis rund 130.000 Frauen gefangen, darunter vor allem Regimegegnerinnen.

Andere galten als „Asoziale“: Prostituierte, Obdachlose oder schlichtweg arme Frauen. Viele wurden sterilisiert, schwangere Frauen mussten abtreiben. Als die Nazis mit den Abtreibungen nicht mehr hinterherkamen, ließen sie die Neugeborenen systematisch verhungern. Anfangs waren die Foltermethoden weniger brutal als in den Männerlagern, doch mit der Zeit unterschieden sie sich nicht mehr.

Die Gefangenen mussten Zwangsarbeit für Siemens verrichten. Zehntausende der Frauen starben an Hunger, Krankheiten oder durch medizinische Experimente, wurden erschossen oder vergiftet, an die 6.000 wurden vergast. Trotz des ungeheuerlichen Leids leisteten einige Frauen Widerstand und hielten zusammen. „Die Namen dieser Frauen mussten bekannt werden“, nennt die britische Journalistin Sarah Helm als Grund, warum sie ein Buch über das KZ Ravensbrück geschrieben hat. Zudem hätten viele Menschen, die sie gefragt habe, noch nie etwas von dem Lager gehört.

„Ohne Haar und ohne Namen“ erschien vor einem Jahr in englischer Sprache und Anfang dieser Woche auf Deutsch. Am Dienstag stellte Helm ihr etwa 700-seitiges Buch in der Topographie des Terrors vor. Die Schauspielerin Katharina Thalbach ließ die Erzählungen dabei in ihrer Lesung erschreckend lebendig werden.

Ein Kapitel handelt von medizinischen Versuchen, die SS-Ärzte an polnischen Studentinnen vornahmen. Sie suchten nach Mitteln zur Wundheilung für deutsche Soldaten. Für diesen Zweck verstümmelten sie die Beine der Gefangenen. Auf dem Weg zum Operationssaal wiederholte Wanda Wojtasik immer wieder: „Wir sind keine Versuchskaninchen, wir sind keine Versuchskaninchen.“ Nach dem Eingriff waren ihre Beine geschwollen, Glas- und Holzsplitter steckten in den Wunden.

Urin als Geheimtinte

Sarah Helm arbeitete zehn Jahre an ihrem Buch. Sie las die Briefe, die heimlich von den Gefangenen herausgeschmuggelt wurden, um die westlichen Alliierten über die Gräueltaten zu informieren. Die Frauen schrieben sie mit ihrem eigenen Urin als Geheimtinte. Helm studierte britische und sowjetische Prozessakten sowie die wenigen verbliebenen NS-Unterlagen. Was ihr Buch so besonders macht, sind die von ihr aufgeschriebenen Erinnerungen von Zeitzeuginnen. Helm sprach mit über 50 Überlebenden. Andreas Nachama, der Direktor der Stiftung Topographie des Terrors, wollte wissen, wie sie persönlich mit den Schilderungen umgegangen sei. Natürlich habe es immer wieder Momente gegeben, in denen sie zusammengebrochen sei, erzählt sie. „Aber es war mehr ein Gefühl der Traurigkeit und nicht des Horrors.“

Oft sei sie vom Mut und dem Widerstand der Frauen beeindruckt gewesen. Eine Gruppe von Zeuginnen Jehovas entschied sich, lieber in Haft zu bleiben als zu unterschreiben, dass sie ihren Glauben ablegen würde. Die Prostituierte Else Krug weigerte sich, eine Mitgefangene zu schlagen. Eine der bekanntesten Gefangenen, Kafkas Freundin Milena Jesenská, fälschte medizinische Resultate, um andere zu schützen. Die Widerstandskämpferin Olga Benario trug eine Mitgefangene, die zu schwach zum Laufen war, obwohl es unter Strafe stand, anderen zu helfen. Eine schwankende Figur, der Helm viel Aufmerksamkeit schenkt, ist die Aufseherin Johanna Langefeld. Sie glaubte an Drill und Disziplin, doch als sie von den medizinischen Experimenten erfuhr, widersetzte sie sich ihrem Vorgesetzten. Die Oberbefehlshaber waren immer Männer.

Insa Eschebach, die Leiterin der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, äußerte sich kritisch zu Helms Buch. Sie betonte, dass Helms Buch von hoher narrativer Qualität sei und in der Tradition britischer Geschichtsschreibung stehe. Zudem gab sie zu, dass die deutsche Geschichtsschreibung zu kompliziert angelegt sei. Dennoch müsse man mit Erinnerungen sehr sorgfältig umgehen. „Erinnerungen sind vom Kontext abhängig“, so Eschebach. Es mache einen Unterschied, ob sich Zeitzeuginnen bei einem Prozess oder einer Tasse Tee äußerten, ob in den 50er Jahren oder heute. Einige Zeitzeuginnen glaubten sich an ein Schild über dem KZ-Tor in Ravensbrück zu erinnern, obwohl dort keines hing, wie Fotografien beweisen: „Das Bildgedächtnis ist überlagert von Auschwitz.“ Am Ende verteidigte eine Zuhörerin, die Tochter einer Ravensbrückerin, den Reportagestil der Autorin: „Unter Zahlen können sich junge Menschen nichts vorstellen. Erst durch persönliche Schicksale wird es nachvollziehbar.“ Julika Bickel

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