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"Flüchtlinge nur Aufhänger"

EUROPA Die Bundestagsabgeordneten Marieluise Beck (Grüne) lädt zur Diskussion über Polen

Gregor Feindt

31,hat über die osteuropäische Opposition promoviert und vertritt die Juniorprofessur Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Bremen.

taz: Herr Feindt, ganz Europa scheint zurzeit nach rechts zu driften – auch einige Parlamente. Was ist das Besondere an der polnischen Situation?

Gregor Feindt: In Polen hat im vergangenen Oktober mehr stattgefunden als nur ein regulärer Regierungswechsel. Wir erleben derzeit einen massiven Staatsumbau, der die politischen Institutionen so zu verändern droht, dass die Rechte ihre Macht auch langfristig festigen könnte.

Hängt das an der aktuellen Flüchtlingsdebatte?

Die Flüchtlinge sind nur ein Aufhänger. Dass Polen keine Flüchtlinge aufnehmen will, ist über die Lagerkonfrontationen hinweg weitgehend Konsens. Die Kulturkampfrhetorik dabei verweist aber auf größere Konflikte und schließt auch Rechtsradikale ein.

Hooligans und Regierung stehen auf der gleichen Seite?

Ja, das kann man so sagen. Es gibt natürlich Abstufungen – viele Hooligans dürften grundsätzlich eher den noch extremeren rechten Populisten nahestehen. Der Konflikt innerhalb der Bevölkerung bezieht sich aber auch auf die nationalistische Bewegungen des vergangenen Jahrhunderts – insbesondere auf die Opposition gegen den Kommunismus.

Das wirkt heute noch nach?

Einzelne Akteure und Vorstellungen aus der Oppositionszeit leben heute noch fort. Es gibt aber zwei grundverschiedene Strömungen: Die eine versteht die Nation als ethnische Einheit, die andere politisch-liberal. Früher konnten beide ihre Differenzen hinter dem gemeinsamen Ziel zurückstellen und zusammen für eine unabhängige polnische Nation eintreten. Seit 1989 geht das aber nicht mehr. Und heute eskaliert eben dieser Konflikt.

Die vielen Tausend demokratischen Demonstranten mit Europa-Fahnen sind also auch Nationalisten?

Die Demokratiebewegung, die für die Unabhängigkeit von Medien und Verfassungsgericht eintritt, trägt Europafahnen, ja – aber dabei immer auch die polnische Nationalflagge. Das ist in Polen untrennbar miteinander verbunden. Trotzdem sind die beiden Nationsvorstellungen nicht mehr kompatibel und weite Teile der Gesellschaft stehen einander feindlich gegenüber.

Manche sprechen ja sogar von einem drohenden Bürgerkrieg.

Ja, aber das ist völlig übertrieben. Wir haben zwar den radikalen Staatsumbau und eklatante Verfassungsbrüche durch die Regierung – aber auf gewalttätige Konflikte deutet derzeit nichts hin. Selbst die Hooligans beschränken sich auf Gewalt gegen Dinge. Angriffe auf die demokratischen Demonstrationen gab es bisher nicht.

Interview: Jan-Paul Koopmann

12.30 Uhr, Europapunkt der Bürgerschaft

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