Missbrauchsopfer bei den „Domspatzen“: „Eine mittelalterliche Hölle“

Ein Gutachten bezichtigt 42 Priester und Lehrer der Regensburger Domspatzen, Kinder misshandelt zu haben. Ein Opfer erinnert sich.

Das Kloster Pielenhofen, aufgenommen am 24.02.2015 in (Bayern)

Von 1981 bis 2013 war in dem Kloster die Vorschule der Regensburger Domspatzen untergebracht. Foto: dpa

taz: Der Sonderermittler zum Missbrauchsskandal, Ulrich Weber, hat in acht Monaten doppelt so viele bis dahin unbekannte Opfer ausfindig gemacht wie das Bistum Regensburg in sechs Jahren. Überrascht sie das?

Udo Kaiser: Nein. Bei der Arbeit in unserer Gruppe aus Betroffenen in den letzten Jahren wurde klar, dass es wesentlich mehr von uns geben muss, als sich bis dahin gemeldet hatten.

Was ist Ihre Geschichte?

Ich war ein sehr lustiges und fröhliches Kind. Mein Vater kam aus dem Krieg zurück, meine Mutter war mit drei Kindern völlig überfordert. Dass ich zu den Domspatzen kam, war eine Idee meines Großvaters. Er wollte mir etwas Gutes tun, ich bin zum Vorsingen gegangen und wurde 1956 in diese mittelalterlichen Hölle aufgenommen. Da war ich acht Jahre alt.

Wie lange sind sie geblieben?

Fünf Jahre – zwei Jahre in der Vorschule und drei im Gymnasium. Mein Vater hat mich rausgenommen, weil sich meine Persönlichkeit stark verändert hatte. Die Leistung fiel ab, ich verweigerte die Schule. Mit Plattenaufnahmen, den vielen Konzerten und den Reisen wurde uns alles aus dem Leib gepresst.

Welche Gewalt haben Sie erlitten?

In der Frühmesse bin ich geschlagen worden, weil ich das Buch verkehrt herum getragen habe. Wenn ich einen falschen Schritt machte, wurde ich an den Beichtstuhl geschlagen. In meinem Zeugnis stand: „Udo kann nicht gehen.“ Wenn ich mal lachte oder hüpfte, hagelte es Watschn, ich wurde an den Haaren durch den Gang geschleift und so sehr am Ohrläppchen gezogen, dass es eingerissen ist. Wer in die Hose oder ins Bett gemacht hat, musste die Sachen vor 80 Kindern waschen. Bettnässer haben nichts zu trinken bekommen. Im Musikunterricht wurde der Klavierdeckel auf die Hand fallen gelassen, oder man hat mir mit dem Geigenbogen über die Hand gezogen. Das war alles ganz normal.

Wurden Sie auch sexuell missbraucht?

Bei einem Präfekten musste ich die Hose runterlassen und den Kopf zwischen die Oberschenkel stecken. Er hat mich verprügelt, während ich sein nacktes erigiertes Glied am Hinterkopf spürte. Das Bistum hat das bis heute nicht als sexuellen Missbrauch anerkannt.

Wie viele Täter gab es?

Die meisten Lehrer an der Vorschule und im Gymnasium haben geprügelt. Das waren ja lauter frühere SA-, SS- und ­NSDAP-Leute, die an einer normalen Schule nicht unterrichten durften. Es wird nichts getan, diese Verbindungen aufzuklären. Ich könnte auf den Schlag 15 Leute mit NS-Vergangenheit nennen. Insgesamt wird auch leicht vergessen, dass noch bis Anfang der 90er Jahre geprügelt wurde, bis dann der Direktor Johann Meier als Hauptverantwortlicher starb.

Gab es etwas Besonderes an dem System der Domspatzen?

Die Schwarze Pädagogik war ja in den 50er und 60er Jahren gängig und erlaubt. Bei uns wurde das Personal aber zudem sexuell übergriffig: Hose runter, über den Hintern streichen. Manche Schüler haben sich den sexuellen Handlungen auch hingegeben, sie sind dem Präfekten verfallen. Einige von ihnen haben sich später das Leben genommen.

Wie ging es bei Ihnen weiter?

Ich kam in ein anderes Internat, machte Abitur, studierte Musik. Heute erscheint mir meine Verdrängung völlig unglaublich: Nach dem Studium war ich immer wieder bei den Domspatzen, habe dort Musik gemacht. Mit 30 Jahren bin ich bei einer Probe in Regensburg zusammengebrochen. Von diesem Moment an habe ich bei Treffen immer wieder über die Sachen geredet, aber es wurde alles abgetan – auch von den Mitschülern, selbst von meinen beiden Brüdern, die auch bei den Domspatzen waren.

Welche Folgen hatten die Erlebnisse für Ihr Leben?

Als Schulmusiker und Musiktherapeut wurde ich frühpensioniert. 2009 erlitt ich eine schwere Depression, als der Missbrauch erstmals bekannt wurde. Ich machte eine Therapie, die mir das Leben zurückgebracht hat. Mit der damaligen und mittlerweile verstorbenen Bistums-Missbrauchsbeauftragten Birgit Böhm hatte ich ein sehr gutes Gespräch. Endlich hörte mir jemand zu. Doch danach geschah jahrelang wieder nichts. Schließlich erhielt ich eine Anerkennungsleistung von pauschal 2.500 Euro.

Was machen Sie heute?

Ich habe eine Familie, eine Tochter. Ich habe meine eigene Stimme entdeckt. Aus der Kirche bin ich ausgetreten. Ich singe gern, arbeite noch freiberuflich, an Silvester etwa bin ich bei der „Fledermaus“ eingesprungen.

Haben die Domspatzen Ihrer Meinung nach noch eine Zukunft?

Das gesamte Modell steht auf der Kippe. Sie haben viel zu wenige Neuanmeldungen. Es kann gut sein, dass die Domspatzen aufgelöst werden. So geschah es ja auch mit der Odenwald-Schule.

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