Klassiker Tilmann Lahme macht es bei den „Manns“ so wie Thomas Mann bei der Kindererziehung: Er hält sich raus. Interessant sind die Lebenskrisen dieser Familie: Komplizierte Leben sind besser
von Dirk Knipphals
Etwas durchfühlen (mit Betonung auf der zweiten Silbe), das ist ein wichtiger Begriff bei Thomas Mann. Szenen, Themen, jeder Satz, das alles muss für ihn nicht nur mit großer Kontrolle durchgearbeitet, sondern auch sorgfältig auf Wirkungen durchfühlt sein. Nur bei seinen Kindern war das Durchfühlen schwierig.
Es ist nun keineswegs leicht, die Geschichte der Familie Mann, wie der Autor Tilmann Lahme sie gerade in seinem Buch „Die Manns. Geschichte einer Familie“ (Fischer Verlag, 480 Seiten, 24,99 Euro) sorgfältig schildert, zu durchfühlen; aber es ist lohnend, das zu versuchen. Bei der Einordnung des Geschilderten macht es Tilmann Lahme selbst wie Thomas Mann bei der Kindererziehung: Er hält sich emotional weitgehend raus. Dafür bekommt man vielfältiges Anschauungsmaterial für die These, dass es eine große gesellschaftliche Errungenschaft darstellt, das Kinderkriegen von Normalität und Pflichterfüllung auf Selbstverwirklichung umzustellen.
Mit den Innigkeitshöhlen, die heutige Eltern für ihren Nachwuchs bauen – um sich selbst argwöhnisch zu befragen, ob sie Helikoptereltern sind –, hat der Lebensentwurf Thomas Manns noch nichts zu tun. Genauso wenig wie damit, eine prekäre Arbeitssituation in Kauf zu nehmen, um schreiben zu können, wie heutige Schriftsteller das tun (müssen). Für Thomas Mann gehörte das noch alles zusammen: eine Ehefrau aus vermögenden Haus, ein schriftstellerisches Werk, eine Villa, stets sorgfältig gescheitelte Haare – und Kinder. Die Fürsorge für die sechs von 1905 bis 1919 geborenen Kinder überließ er dann im Wesentlichen seiner Ehefrau Katia Mann, die wie eine Familienmanagerin wirkte.
Dienst am Werk
Zugleich entstand eine hektische Textproduktion – Tagebücher, Briefe –, an der sich alle Mitglieder der Familie beteiligten. Katia berichtet Thomas über ihre Kinder. Die ältesten, Erika und Klaus, müssen per Post erklären, warum sie wieder Geld brauchen. Golo, der Drittgeborene, berichtet einem Studienfreund, wie schrecklich er seine Jugend empfindet. Usw. Aus diesem Material kann Tilmann Lahme schöpfen.
Wie Thomas Mann sich sein eigenes Leben und das der ganzen Familie vorstellt, wird dabei ganz klar: Triebverzicht, Gefühlsregulierung als Dienst am schriftstellerischen Werk. So weit wurde das ja auch vor einigen Jahren etwa durch Heinrich Breloers Fernsehereignis „Die Manns“ dargestellt.
Der springende Punkt aber ist, dass schon Thomas Mann selbst bei diesem Konzept nicht immer mitspielt; immer wieder muss er, durchaus mit Einsatz von Aufhellungspillen, nervöse Krisen überwinden. Erst recht machen die Kinder im Grunde von Anfang an gar nicht mit.
Erika und Klaus Mann nehmen sich etwas, was man heute als etwas ausgedehnte Pubertäts- und Rebellenphasen begreifen würde, Drogenabstürze, Weltreisen auf Pump und erotische Experimente inklusive. Dass sie offen homosexuell waren, war in der Familie gar nicht das wesentliche Probleme, eher schon die Vehemenz, mit der sie ein eigenes Leben suchten und dabei auch die Prominenz des Vaters ausnutzten – allerdings machten sie durch Charme und Frechheit vieles wett. Und man weiß dann nicht, was man erschütternder finden soll: dass Klaus sich 1949 das Leben nimmt oder dass Erika im amerikanischen Exil in den Schoß der Familie einfluchtet und als Assistentin des Vaters fungiert.
Golo Mann, der sich lange abgelehnt fühlt, flüchtet sich wiederum früh ins Grübeln. Golo wird übrigens, im Rahmen eines sozialistischen Identitätsexperiments, ein paar Wochen in einem Bergwerk arbeiten. Es ist, wie Lahme anmerkt, „das einzige Mal, jemals, dass ein Mitglied der Familie Thomas Mann eine bezahlte körperliche Arbeit übernimmt“. Und Michael Mann, der Jüngstgeborene, nutzt seine Nesthäkchenstellung aus, um sich ein mondänes Leben inklusive Bugatti zu erbetteln. Er wird 1977 an einer Überdosis Tabletten sterben; für einen Selbstmord spricht viel.
Was die Manns interessant macht, ist zum einen, dass die ganze Familie, nach einigem Hin und Her, im Exil entschlossen gegen Nazideutschland steht. Wie besonders das war, darf man nicht vergessen. Zum anderen sind es gerade die in ihr voll ausgelebten Lebenskrisen. Sie geben der Konstellation etwas Schillerndes. Man fühlt sich an die wohlstandsverwahrlosten Jugendlichen bei Bret Easton Ellis erinnert oder an die alleingelassenen Pubertierenden bei J. D. Salinger.
An diesem Punkt stößt Lahmes Darstellung an ihre Grenzen. Selbstverständlich bezieht man die Krisen der Kinder auf das familiäre Setting: auf die emotional kühle Mutter, die etwa Golo Mann zum ersten Mal bei der Beerdigung ihres Mannes weinen sieht, sowie auf den im Arbeitszimmer verbarrikadierten Vater, der oft nur in Gestalt des Zigarrengeruchs anwesend ist. Zugleich aber hat es etwas allzu Konservatives, diese Schicksale als geschlossene Familiengeschichte zu erzählen.
In vielem sind es ja die üblichen großbürgerlichen Verhaltensweisen der Zeit, die in dieser Familie exekutiert und an ihre Bruchstellen gebracht werden. Kinder werden gezeugt, geboren – und dem Personal überlassen. Gerne hätte man etwas über die Hausmädchen erfahren, die den Laden schmeißen, wenn Katia wieder auf Lungenkur und Thomas in einem Roman vergraben ist. Bei Tilmann Lahme erfahren wir nur, dass Klaus Mann einmal für ein verjuxtes Pfingstwochenende hundert Mark einfordert, „und damit fast doppelt so viel, wie ein Kindermädchen bei den Manns im Monat verdient“.
Aber auch wenn man heute nach vielen pädagogischen Reformen und emanzipativen Bewegungen sehr vieles an Kälte und familiärer Dysfunktionalität bei den Manns hoch befremdend empfindet: Im Vergleich mit anderen großbürgerlichen Familien würden sie vielleicht sogar gar nicht so schlecht abschneiden. Auf die unterdrückte Homosexualität Thomas Manns jedenfalls wird im Familienkontext ziemlich frei angespielt, auch von ihm selbst. Man wusste.
Twenty-somethings
Und davon, dass in einem Familiensystem vieles ausgehandelt werden muss, zeugen sehr viele Briefe. Geldfragen, Ehepläne, alles wird zumindest beredet. Auch sonst rauft man sich, unter den Bedingungen von Exil und Weltkrieg, irgendwie wieder zusammen. Allerdings erscheint Thomas Mann nicht auf der Beerdigung seines Sohnes Klaus. Und eine heutige Familie hätte es wohl auch noch hingekriegt, dem so lärmempfindlichen Vater abzuhandeln, dass sein Arbeitszimmer ausgerechnet im Zentrum der Münchner Villa liegen muss. Im kalifornischen Haus lag es dann allerdings auch schon abgeschiedener.
Endgültig interessant wird es, wenn man über die Lebenskrisen der Manns nachdenkt. In den „Buddenbrooks“, dem einzigen Roman, den er noch als Junggeselle fertigstellte, verknüpfte Thomas Mann familiäre Abweichung noch mit Dekadenz. Mit einiger Verblüffung kann man feststellen, dass gerade die Knackpunkte, die später in der Familie Mann virulent waren, auch die Punkte sind, an denen die Gesellschaft mittlerweile am meisten dazugelernt hat. Homosexualität: Privatsache. Sich künstlerisch ausprobieren: kann man heute im Rahmen von Aufbaustudiengängen. Bohemeleben: steht einem bürgerlichen Lebensentwurf nicht mehr entgegen. Die Welt entdecken: steht heute in den Semesterferien auf dem Programm.
Auch wenn sie Krisen produzieren: Komplizierte, ausprobierende Leben sind intensiver und besser. Das weiß man heute. Man muss daran nicht mehr sterben wie Hanno in den „Buddenbrooks“ oder hilflos manisch-depressiv durchs Leben strudeln. Erika, Klaus, Golo und die anderen mussten da noch ohne Rückendeckung durch kollektiv geteilte und damit entlastende Twenty- bis Fifty-something-Konzepte durch.
Zumindest wurde bei den Manns ganz klar, was man besser machen musste. Echos dieser Konstellation findet man in Jonathan Franzens Roman „Korrekturen“ oder der TV-Serie „Six Feet Under“, wo kühle Familienregime in warme Gefühlshaushalte umgebaut werden (und damit neue Probleme entstehen). Bei den Manns geht es noch viel um Scheitern und Aushalten. Aber man kann das auch so sehen: Angelegt ist in ihr teilweise schon, dass man das genauso gut als „sich ausprobieren“ begreifen kann.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen